Gedenkveranstaltung
zu Ehren von Eduard Fürstenberg
Bei der "Deaf History" in Deutschland gehört es langsam zur Selbstverständlichkeit,
an besonderen Tagen an gehörlose Persönlichkeiten von früher zu erinnern.
Mit der Würdigung finden wir gleichzeitig ein Band zu den früheren Gehörlosen,
die genauso in wichtiger Beziehung zur Gehörlosengemeinschaft stehen.
Sie lebten halt nur in anderen Zeiten und in anderen Gesellschaftsformen.
Diese Gehörlosen haben ihr Bestes für die Gehörlosenkultur gegeben. So
haben wir beispielweise die Veranstaltungen 2000 Carl Wilke, 2001 Otto
Friedrich Kruse und die Veranstaltung am 4. Mai 2002 in Berlin Eduard
Fürstenberg gewidmet.
Der Gehörlosen-Verband Berlin organisierte die Gedenkveranstaltung
am 4. Mai anlässlich des 175. Geburtstages von Eduard Fürstenberg (1827-1885).
Fürstenberg war der Gründer der deutschen Gehörlosenbewegung. Darüber
mehr ist im Bericht von Jochen Muhs in der DGZ 5/2002 zu lesen.
Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof
Am Vormittag stand der Besuch des Dorotheenstädtischen
Friedhofs in der Nähe des Stadtzentrums auf dem Programm. Dort konnten
wir - etwa 30 Gehörlose - das Ehrengrab mit einem schwarzen Grabstein
und der Inschrift "Förderer der Taubstummen" finden. Drei Tage zuvor war
das Ehrengrab endlich fertiggestellt worden. Thomas Zander, I. Vorsitzender
des Gehörlosen-Verbandes, berichtete erfreut über die erfolgreiche Beantragung
des Ehrengrabes. Der Berliner Senat hatte vor einem Jahr durch Anregung
des dortigen GL-Verbandes die Grabstätte Eduard Fürstenbergs für zunächst
20 Jahre als Ehrengrab anerkannt. Danach erzählte Jochen Muhs, dass ihm
und vielen Gehörlosen der Name Fürstenberg vor 20 bis 40 Jahren unbekannt
gewesen ist. Nun wird an die damaligen Aktivitäten von Fürstenberg wieder
erinnert.
Eduard-Fürstenberg-Plakette an Charlotte
Braun
Am Nachmittag kamen etwa 60 Gehörlose und hörende Ehrengäste
- darunter zwei Politiker aus dem Senat - in den Eduard-Fürstenberg-Saal
im Gehörlosenzentrum Friedrichstrasse. Sie wurden mit Kaffee und Kuchen
bewirtet. Thomas Zander begrüßte alle und erklärte die Bedeutung des heutigen
Tages für die Gehörlosen in Berlin und im übrigen Deutschland. Dann wurde
eine Ehrung mit der Eduard-Fürstenberg-Plakette vorgenommen (dabei handelt
es sich um einen kleinen weißen Porzellan-Teller mit dem Motiv von Fürstenberg,
hergestellt von dem gehörlosen Künstler Marek Lipowski). Dieses Jahr bekam
die fast 90jährige Charlotte Braun den Preis zugesprochen. Die Berliner
Vereine und der Vorstand des Gehörlosen-Verbandes hatten sich für sie
entschieden, denn sie hat sich jahrelang um die Erhaltung des Erholungsheims
vom "Zentralverein für das Wohl der Taubstummen in Berlin", im Stadtteil
Heiligensee gelegen, gekümmert. Dieser Verein war 1849 von Eduard Fürstenberg
gegründet worden. Dank Charlotte Braun und ihres Mitarbeiters Norbert
Enke besteht dieses Erholungsheim für Gehörlose noch heute.
Früher arbeiteten eher die Spätertaubten
mit
Nach der Ehrung hielt Jochen Muhs die Laudatio auf
Eduard Fürstenberg. Er verglich das Leben der Gehörlosen von früher und
heute. Und er machte darauf aufmerksam, dass die intelligenten Gehörlosen
früher nicht so aktiv mitarbeiteten, sondern eher die Spätertaubten, die
mit den Behörden lautsprachlich kommunizieren konnten. Heute besteht die
Möglichkeit, dass wir interessierte Hörende zu Gebärdensprachdolmetschern
ausbilden. Mit ihrer Hilfe können Gehörlose selber weit kommen und auch
zu akademischen Abschlüssen gelangen.
Hervorragendes Theater
Nach der kurzen Pause begann eine hervorragende, fast
einstündige Theateraufführung, die die Anwesenden sicherlich nicht so
erwartet haben. Das Theaterstück über Eduard Fürstenberg, von Jochen Muhs
geschrieben, führten fünf gehörlose Darsteller unter der Regie von Thomas
Zander auf. Es gab vier verschiedene Szenen: Märzrevolution, Kirchenfest,
Frauenverein und "Taubstummen"-Kongress. Marek Lipowski sorgte für das
bessere Bühnenbild. Dina Tabbert und Gunnar Lehmann dolmetschten für die
hörenden Anwesenden.
Märzrevolution
Ege Karar, ein junger Student aus Berlin, spielte in
der ersten Szene den Fürstenberg. Er machte uns durch sein feines Benehmen
bewusst, dass Fürstenberg aus vornehmer Familie stammte. Bildung war bei
diesen Bürgern damals sehr wichtig und darauf waren sie stolz. Jochen
Muhs spielte den Tischlermeister Joseph Ludwig Beck, den eigentlichen
Gründer des "Taubstummen-Vereins" in Berlin. Auf Drängen von Beck und
Neumann, den Harald Weikert spielte, übernahm der 21-jährige Fürstenberg
den Vorsitz des "Taubstummenvereins", der am 30. März 1848 gegründet wurde,
nur elf Tage nach Beginn der Revolution. Denn Fürstenberg war die geeignete
Person, die sich zu dieser Zeit bei der Ausbildung im Finanzministerium
befand und daher die Satzung ausarbeiten konnte. Ein Jahr zuvor war schon
die Idee mit der Vereinsgründung entwickelt, jedoch wegen fehlender Satzung
nicht umgesetzt worden.
Kirchenfest
In der zweiten Szene spielte Kurt Eisenblätter, der
weltbekannte Schauspieler aus Berlin, den Pfarrer Schönberner. Er war
ab 1865 als erster Gehörlosenpfarrer in Berlin angestellt worden. Er war
bekannt für klare Predigten in Gebärdensprache oder lautsprachbegleitenden
Gebärden (LBG). Beim Kirchenfest, wo zumeist mehr als 1000 Gehörlose anwesend
waren, verwies Eisenblätter zuerst auf die gehörlosen Lehrer Johann K.
Habermaß und Carl Wilke. Die beiden hatten früher in der Berliner "Taubstummenanstalt"
die Sonntags-Gottesdienste abgehalten. Dann gebärdete Pfarrer Schönberner
die Predigt langsam und klar in LBG. Er merkte, dass sich in den hinteren
Bänken die jungen Leute viel unterhielten. Nach der Predigt beschwerte
sich Schönberner bei Fürstenberg. Der beruhigte ihn mit der Erklärung,
dass sich die jungen Leute selten sehen und sich darum freuen. Sie konnten
vielleicht auch heiraten, was für die Gehörlosen vorteilhaft war. Der
Pfarrer sah ein, dass er nichts dagegen machen konnte.
Frauenverein
Die junge Studentin Heike Söhnel spielte danach Malwin
Fürstenberg, die hörende Frau von Eduard. Auf einer Bank saßen die verärgerte
Malwin und Eduard. Sie beklagte sich, dass sie zuviel für den Haushalt
arbeiten müsste und Eduard zuviel für die Vereine. In den "Taubstummen"-Vereinen
durften damals nur Männer Mitglieder werden. Langsam fiel Eduard ein,
dass auch ein Frauenverein notwendig war. Beide überlegten, welche gehörlose
Frau als Vorsitzende geeignet wäre. Die Vorsitzende musste anständig und
vorbildlich sein. Die Vorschläge von Malwin passten Eduard nicht. Schließlich
bat er seine Frau darum, selbst Vorsitzende zu werden, da sie sowieso
gut gebärden konnte. Seit 1869 gab es den Gehörlosen-Frauenverein, bis
er sich 1910 mit dem "Taubstummen-Verein" vereinigte und den neuen Namen
als "Allgemeiner Taubstummen-Unterstützungsverein e.V." führte.
"Taubstummen"-Kongress
In der letzten Szene sahen wir vier Darsteller auf einem "Taubstummen"-Kongress
diskutieren. Die internationalen Gehörlosen-Kongresse wurden 1873 zum
erstenmal in Berlin durchgeführt und insgesamt sechsmal bis 1884. Eduard
Fürstenberg war die treibende Kraft der Kongresse, was Ege Karar auch
demonstrativ spielte. Er erklärte zuerst die Unterschiede zwischen den
Kirchfesten und den Kongressen. Er begrüßte Berg, den hörenden Gehörlosenlehrer
aus Stockholm, Schweden. Diesmal spielte Kurt Eisenblätter den Berg. Er
erklärte in internationalen Gebärden seine Freude, beim Kongress sein
zu können. Jochen Muhs spielte diesmal den Ferdinand Rasch, einen gehörlosen
Lehrer der Gehörlosenschule Leipzig, der auch lange Zeit hervorragend
den Leipziger "Taubstummen-Verein" als I. Vorsitzender leitete. Auf dem
Kongress beklagte sich Rasch, dass immer mehr Gehörlosenlehrer nicht mehr
gebärden und nur noch oral unterrichten wollten. Es wäre zum Schaden für
die gehörlosen Schüler. Dem stimmte Harald Weikert als John E. Pacher
zu. Pacher war ein erfolgreicher Unternehmer in Hamburg und organisierte
1891 eine an Kaiser Wilhelm II. gerichtete Massenpetition gegen den rein
lautsprachlichen Unterricht.
Dem Wirken Eduard Fürstenbergs verpflichtet
Am Ende der vierten Szene gebärdete Ege Karar als Eduard Fürstenberg direkt
zum Publikum, dass die Gehörlosenbewegung fortgeführt werden muss und
wir immer für Fortschritte kämpfen sollen. Die anderen Darsteller legten
ihre Hände auf die Schulter von Karar. Es hatte den Anschein, dass wir
alle mit diesen Darstellern ebenfalls die Hände auf die Schultern von
Fürstenberg legen und sozusagen mit dem historischen Erbe von Eduard Fürstenberg
weiterleben.
Auch anderen Gehörlosen eine Zeitreise
ermöglichen
Die Zuschauer waren begeistert und spendeten großen Beifall. Wir hatten
uns in die früheren Situationen der Gehörlosen hineinversetzen können.
Es war den Darstellern gelungen, uns eine schöne Überraschung zu machen.
Ihnen und dem Gehörlosen-Verband Berlin gebührt Dank, nicht zuletzt Jochen
Muhs, Organisator der Veranstaltung und Verfasser des Theaterstücks! Hoffentlich
führen die Darsteller dieses Theaterstück später noch einmal auf, damit
auch andere Gehörlosen eine Zeitreise miterleben und auf diese Weise Eduard
Fürstenberg kennen lernen können.
Danach unterhielten wir uns gemütlich für ein paar Stunden im Eduard-Fürstenberg-Saal
weiter. Es war auch ein schöner Tag für die "Deaf History"-Interessierten
und die Mitglieder der "Kultur und Geschichte Gehörloser e.V." (KuGG).
Die KuGG, deren erster Vorsitzender ich derzeit bin, würde solche Veranstaltungen
gerne überall organisiert sehen.
Helmut Vogel
(veröffentlicht in der "Deutschen Gehörlosen-Zeitung", Nr. 6, 2002, S.
159-161)
Bericht
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