John E.
Pacher
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STATT HÖREN 2444 / 442 636
1096. Sendung vom 28. 07. 2002
Deaf History:
Wer war John Pacher?
2. Moderation J. Stachlewitz:
Nachdem wir Sie nun ganz aktuell informiert haben, blicken wir im
zweiten Beitrag weit zurück in die Geschichte der Gehörlosen.
Helmut Vogel stellt Ihnen eine interessante historische Persönlichkeit
vor, die in Hamburg gelebt hat und sehr viel für die Gehörlosen
und für die Gebärdensprache getan hat, obwohl das damals,
zur Zeit des Mailänder Kongresses von 1880 mit seinem Gebärdensprach-Verbot,
wirklich sehr schwierig war.
Beitrag: John Pacher (Tim Moores) Länge: 17 Min.
MONTAGE: Hamburg
02:25 Helmut Vogel:
Diese alten Häuser sind historisch interessant, denn am 4.
Mai 1842 brach hier ein Feuer aus, das sich schnell ausbreitete
und mehr als die halbe Stadt vernichtete. 21.500 Menschen wurden
obdachlos.
02:51
Einen Tag nach dem Ende des Hamburger Brandes, am 9. Mai 1842, wurde
Pacher geboren. Sein vollständiger Name war John Ernest Pacher,
seine Namensgebärde ist so: Pacher. Warum? Er hatte einen langen
Bart mit zwei Spitzen - natürlich noch nicht als kleines Kind,
sondern erst als Erwachsener.
03:18 BILD: Pacher
03:22 Helmut:
Pachers Vater war ein Hamburger Kaufmann. Pacher war hörend
bis zum 5. Lebensjahr, dann ertaubte er durch Scharlachfieber. Er
kam gleich in die Taubstummenanstalt Hamburg-St.Georg und blieb
dort elf Jahre lang.
03:45 BILD: Schule
03:50 Helmut:
Als Pacher anfangs in die Taubstummenanstalt kam, waren dort 17
Schüler. Die Eltern Pachers und noch eines anderen Schülers
bezahlten das volle Schulgeld - die der anderen nicht. Pachers Vater
war ja Kaufmann und hatte gutes Geld.
Er lernte dort. Im Unterricht wurde auch gebärdet; die Lehrer
konnten gebärden! Dann, 1858, wurde er entlassen und im Zeugnis
stand, dass er gut lesen und schreiben konnte und auch gut absehen
und sprechen.
04:32 Zwi. Schni.: Porzellanmalerei
04:44 Helmut:
Als er aus der Schule entlassen wurde, suchte er einen Beruf. Er
überlegte und ging zu einem Porzellanmaler, und in dessen Firma
machte er eine Ausbildung.
04:55 Zwi.Schni.: Porzellanmalerei
05:23 Helmut:
Nachdem er Porzellanmaler geworden war, lernte er noch etwas Neues
und wurde Litograph. Einige Zeit danach, mit ungefähr 23 Jahren,
gründete er sein eigenes Geschäft, eine lithographische
Anstalt.
05:43 Zwi.Schni.: Steinpresse
(Museum der Arbeit)
05:58 Helmut:
Pacher war gern überall dabei, wo es interessant war. In seiner
Jugend war er bei Kirchenfesten in Berlin, und auch bei internationalen
Taubstummenkongressen sah er sich um und spielte dort den Zauberer.
06:15 Zwi.Schni.: Zauberer
06:21 Helmut:
Pacher lernte eine Frau kennen, mit der er sich gut verstand. Die
beiden kannten sich schon 7 Jahre und Pacher war 34, als die beiden
heirateten. Seine Frau hieß Ida Freiin von Münchhausen
und lebte in Stettin; dort in ihrem Schloss fand ihre Hochzeit statt.
06:45 BILD: Stettiner Schloss
06:52 Helmut:
Sie heirateten also in einem Schloss.
Der Vater von Ida, Pachers Frau, war damals Oberpräsident von
Pommern, eine hohe Position. Nach der Heirat ging es den beiden
gut, Pachers Geschäft florierte und sie suchten eine Wohnung.
Die fanden sie in diesem Haus in der Nähe der Alster und zogen
in den ersten Stock.
07:15 Zwi.Schni.:
Pacher in der Wohnung
07:24 Helmut:
Pachers Geschäft, die lithographische Anstalt, lief sehr gut,
er hatte auch Kontakte zum Ausland und konnte erweitern. Er hatte
auch an der hiesigen Börse einen eigenen festen Stand, woher
er seine Informationen und Aufträge bekam.
07:48 Zwi.Schni.: Börse aussen
Pacher in der Börse
08:02 Helmut:
Pachers Geschäft expandierte auch dadurch, dass er verschiedene
Titel bekam: zuerst wurde er Hoflieferant des deutschen Kronprinzen,
dann - noch wichtiger - Commissionsrath, das war 1884, und ungefähr
1888 stieg er auf zum Kaiserlichen Hoflieferanten.
Er hatte einen sehr guten Ruf und die Geschäfte gingen so gut,
dass die Fabrik zu klein wurde und umziehen musste. Pacher selbst
zeichnete die Pläne für ein größeres Gebäude.
08:42 Steinpresse
09:03 Helmut:
Seine Firma wuchs, er stellte immer mehr Leute ein, bis er ungefähr
45 Angestellte hatte. Darunter waren auch mehrere Gehörlose:
ein Drittel der Belegschaft war gehörlos und arbeitete in verschiedenen
Bereichen. Später kamen auch Kinder aus der Hamburger Taubstummenanstalt
zu ihm in die Ausbildung. Es gibt einen Bericht aus der damaligen
Zeit im "Taubstummen-Courier", einer österreichischen
Gehörlosenzeitschrift, in dem stand:
09:43 Zitatensprecher:
"Welches Entsetzen und Mitleid ergriff den Fabrikbesitzer,
als er nach und nach die Wahrnehmung machte, dass die meisten Kinder
nichts als bemitleidenswerthe abgerichtete Automaten waren. Was
Wunder, wenn der Menschenfreund, von gerechter Entrüstung über
die modernen Lautsprachfanatiker ergriffen, den Entschluss fasste,
auf Wiedereinführung der Geberden in den Taubstummenschulen
zu dringen."
10:32 John Pacher:
Ich meine, dass der mündliche Verkehr mit den Lehrern zwar
gut sei, aber das Verbot der Zeichen=resp. Fingersprache nicht richtig
wäre und empfehle, dass die intelligenten Taubstummen als Lehrer
für die jüngeren taubstummen Kinder angestellt werden
sollten.
11:05 Helmut:
Er sah, dass die Gebärdensprache mehr und mehr aus den Schulen
verdrängt wurde und war sehr besorgt. Er nahm dieses sehr ernst,
wurde aktiv und wollte etwas tun. Zuerst schickte er ein Rundschreiben
an alle Taubstummenvereine des deutschen Reiches:
11:24 Pacher:
Der Unterzeichnete beabsichtigt in Form einer Petition an hoher
Stelle Protest zu erheben gegen die Verdrängung der Zeichensprache
aus den Bildungsanstalten für Taubstumme und will klar und
deutlich klarlegen, dass die Zeichensprache notwendig und neben
der Lautsprache weiter gepflegt werden muss, anderenfalls ein Krebsschaden
oder Rückgang in der Ausbildung der Taubstummen zu konstatieren
wäre, weil ja jetzt schon ein Nachteil vorhanden, indem durch
das Hervorheben der Lautsprache seitens der Anstalten sehr viele
Taubstumme sich unter einander nicht verstehen.
Erstens weil sie nicht zu sprechen verstehen; zweitens weil ihnen
die Kenntnis der Zeichensprache vollständig fremd ist.
12:35 Helmut:
Dann verfasste er eine Massenpetition, die er im ganzen deutschen
Reich verschickte und für die er Unterschriften sammelte. Insgesamt
unterschrieben ungefähr 800 Personen, hörende und gehörlose.
Dann, 1891, überreichte er diese Petition dem deutschen Kaiser.
12:54 BILD: Kaiser
13:02 Pacher:
Schon seit einer Reihe von Jahren sind die meisten Taubstummen fast
aller Culturstaaten in der glücklichen Lage, sich der Segnung
eines schulgemässen Unterrichts und einer planvollen Erziehung
erfreuen zu dürfen. Wie auf allen Gebieten der Humanität,
so hat Deutschland auch auf dem des Taubstummenunterrichtes von
jeher eine hervorragende Stellung eingenommen; allein diese Stellung
scheint gefährdet infolge der abwehrenden Haltung, welche die
deutschen Taubstummenlehrer beobachten in einem Methodenstreite,
welcher nun schon über hundert Jahre andauert und welcher in
neuester Zeit für die deutschen Taubstummen immer verhängnisvoller
zu werden droht.
13:58
Während die ausländischen Taubstummenlehrer zur Erreichung
jenes Zweckes neben der Lautsprache hauptsächlich die Geberdensprache
und Schrift als Verständigungs- und Unterrichtsmittel verwenden,
geht das ganz bestreben der deutschen Taubstummenlehrer dahin, die
Stummen redend zu machen, sie in den Besitz der Landessprache zu
bringen und unter Anwendung schärfster Disciplinarmittel die
dem Taubstummen eigenthümliche Zeichensprache aus dem Unterrichte
und aus den Anstalten zu verdrängen.
14:30
Anstatt die dem Taubstummen von der Natur verliehene Geberdensprache
auszubilden und mit Hilfe derselben den Geist der Gehörlosen
mit allerlei nützlichen Kenntnissen zu bereichern, wird das
Hauptgewicht auf mechanische Sprechübungen, zwecks Erlernung
der Lautsprache, gelegt, ohne dass die große Mehrzahl der
Taubstummen selbst bei martervollster Anstrengung das erwünschte
Ziel auch nur annährend erreichte.
15:04
Die künstlich erlernte Lautsprache der Taubstummen wird von
den Hörenden nur selten verstanden, und da die Gehörlosen
im schriftlichen Ausdruck nicht die genügende Gewandtheit sich
erwerben und während der Schulzeit die Geberdensprache bei
ihnen mit den schärfsten Mitteln unterdrückt wurde, so
ist selbst eine Verständigung der jüngeren Taubstummen
mit ihren älteren Leidensgefährten nur schwer möglich.
15:35
Die bedeutenden Resultate der amerikanischen Taubstummenanstalten,
in denen das gemischte System mit bestem Erfolge Verwendung findet,
sprechen gegen die Richtigkeit der Behauptung der deutschen Taubstummenlehrer,
nach welcher die Zeichensprache unvereinbar sein soll mit der Articulationsmethode.
16:03 Helmut:
Er gab dem Kaiser die Petition, der besah sie kurz und gab sie weiter
an das Ministerium für Unterricht und Kultur. Dort wurde darüber
diskutiert und im September 1892 kam eine Antwort mit negativem
Inhalt:
16:22 Zitatensprecher:
"Auf Grund der eingehendsten Ermittlungen hat sich hiernach
ergeben, dass keine Veranlassung vorliegt, in der gegenwärtigen
Art des Taubstummenunterrichtes eine Aenderung eintreten zu lassen."
16:37 Helmut:
Diese Antwort war eine schlimme Enttäuschung für Pacher,
weil er vergeblich gekämpft hatte. Er zog sich zurück,
doch andere Gehörlose kämpften weiter und diskutierten
noch lange Zeit auf Kongressen darüber. Pacher war deprimiert,
auch weil seine erste Frau gestorben war.
Aber er hatte auch versucht, sich für ein Denkmal für
Samuel Heinicke einzusetzen, der damals die erste Taubstummenschule
gegründet und über den Oralismus geschrieben hatte. Fünf
Jahre lang sammelte er und dann wurde in Eppendorf das Denkmal errichtet,
das heute noch dort steht.
17:22 Zwi.Schnis.: Johannis-Kirche
und Heinicke Denkmal
17:31 Helmut:
1898, im Alter von 56 Jahren, erlitt Pacher einen Gehirnschlag und
starb. Wenn man auf sein gesamtes Leben zurückblickt, erkennt
man drei wichtige Punkte:
1. Er war mit 23 Jahren schon selbständiger Fabrikbesitzer
und führte seine eigenen Geschäfte
2. Er gründete hier in Hamburg den Verein; zuerst 1875 und
dann 1891, förderte und unterstützte auch viele Gehörlose
und half ihnen.
3. Er versuchte mit aller Kraft, durch seine Massenpetition die
Gebärdensprache zurück in die Schulen zu holen, was ihm
leider damals nicht gelang.
Das war John Pacher.
18:21 Schlusstitel
Bericht: Tim Moores
Reporter: Helmut Vogel
John Pacher: Jürgen Stachlewitz
Kameras: Mick Chmella und Hajo Menzel
Maske: Axel Wilms
Schnitt: Frank Heimann
18:35 Wir danken:
dem Museum für Hamburger Geschichte
18:41 dem Museum der Arbeit, Hamburg
18:46 der HPS - Hamburger Porzellan-Malerei-Schule
19:00 und Karin Wempe und Prof.
Renate Fischer, Universität Hamburg,
für ihre Entdeckung von John Pacher
(in DAS ZEICHEN, Nr. 33 und 34 / 1995)
3. Moderation J. Stachlewitz:
Jetzt kommt normalerweise unser Hinweis auf das nächste Wochenende.
Aber ich gebe Ihnen heute schon einen Ausblick auf die nächsten
sieben Sendungen! Sehen statt Hören bringt nämlich vom
3. August bis zum 14. September ein spezielles Sommerprogramm.
Wir beginnen mit der Besteigung des Kilimandscharo durch eine Gruppe
Gehörloser,
besuchen dann die Inseln Kuba und Marthas Vineyard, begleiten zwei
gehörlose Frauen in den Iran und den Künstler David Ludwig
Bloch nach Shanghai.
Der Höhepunkt aber wird die Sendung vom 7. und 8. September
sein: Gehörlose
aus New York, die selbst dabei waren, als es passierte, berichten,
wie sie die Terror-
anschläge am 11. September vorigen Jahres erlebten!
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