SEHEN STATT HÖREN
1185. Sendung vom 26.6.2004
WEGE ZUM VERSTEHEN DER GEHÖRLOSENKULTUR
Internationale Tagung des "KUGG" in Heidelberg
Conny Ruppert in Heidelberg:
„Gehörlosen-Kultur“! Ist doch klar, dass die Kultur
Gehörloser ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Gemeinschaft
ist! Die Kulturangebote für Gehörlose sind ganz schön
vielfältig, es gibt Theater und vieles mehr. In der Vergangenheit
war das nicht immer selbstverständlich. Wie aber lässt
sich „Gehörlosenkultur“ genau beschreiben?! Sind
es typische Verhaltensmuster; z.B. gängige Begrüßungsrituale,
oder nicht enden wollende Unterhaltungen, wo Gehörlose als
letzte ein Lokal verlassen, wenn die Lichter schon aus sind? Gehört
dazu auch unsere sehr direkte Art bei Gesprächen? Oder unsere
Klatsch- und Tratschgeschichten?! Ist es das, was unsere Kultur
ausmacht?!
Wir sind heute in Heidelberg, um näher auf dieses Thema einzugehen
und mehr darüber zu erfahren. Der Verein KUGG, Kultur und Geschichte
Gehörloser e.V., hat sich schon eingehend mit diesem Thema
befasst und dazu eine Tagung mit vielen interessanten Referenten
organisiert. Das Motto heißt: „Wege zum Verstehen der
Gehörlosenkultur“!
„Gehörlosenkultur“, Impressionen
von Heidelberg
Conny: Ich möchte jetzt
einfach mal einige Teilnehmer fragen, was sie sich unter „Gehörlosenkultur“
eigentlich vorstellen.
1. Frau: Die Kultur Gehörloser
ist sehr vielseitig – Gebärdensprache, Kunst, Malerei,
Filme, Videos.
2. Frau: Wir haben eine eigene
Sprache. Gehörlose fühlen sich wie eine große Familie,
und zwar weltweit. Gehörlose finden selten ein Ende bei ihren
Unterhaltungen und kommen deshalb nur schwer nach Hause. Das macht
für mich Gehörlosenkultur aus.
Im Saal - Helmut Vogel mit Dolmetscher:
Wir wollen uns auf dieser Tagung mit dem Begriff „Gehörlosenkultur“
in der vollen Breite und Tiefe beschäftigen.
Conny: Das ist Helmut Vogel.
Er ist Vorsitzender vom Verein KUGG und zugleich Organisator dieser
Veranstaltung. Bist du der Auffassung, dass die Gehörlosen
in Deutschland sich ihrer Kultur voll bewusst sind?
Helmut Vogel: Es gibt Gehörlose,
die sich aus beruflichen Gründen mit diesem Thema auseinandersetzen.
Diesen Gehörlosen ist die Gehörlosenkultur durchaus bewusst.
Das sind z.B. Gebärdensprachdozenten oder Gehörlose, die
in der Gebärdensprachforschung arbeiten. Auf der anderen Seite
gibt es die Basis der Gehörlosengemeinschaft, also Gehörlose,
die Gehörlosenkultur leben, aber sich dessen nicht unbedingt
bewusst sind.
Simon Kollien beim Vortrag, Conny: Das
ist Simon Kollien. Er ist Diplom-Psychologe und arbeitet am Institut
für Gebärdensprache an der Universität in Hamburg.
Für den Begriff Kultur gibt es unendlich viele Definitionen.
Wie wird dann „Gehörlosenkultur“ verstanden und
definiert?
Simon Kollien: Die Gehörlosenkultur
hat neben vielen anderen Kulturen auch eine eigene Form von Kultur.
Es gibt für den Begriff „Kultur“ auch bei den Hörenden
sehr viele unterschiedliche Definitionen und heiße Diskussionen,
was man sich unter Kultur vorstellt. Der Begriff ist nicht endgültig
geklärt, es gibt an die 1500 Definitionen für Kultur.
Der Begriff Gehörlosenkultur ist auch nicht festgelegt, man
muss ihm gegenüber sehr offen sein. Es gibt verschiedene Aspekte,
wie man unsere Kultur sehen kann: Zum Beispiel die Soziologie, die
sich genauer mit der Gehörlosengemeinschaft auseinandersetzt,
oder die Psychologie, die sich den gehörlosen Menschen in seinem
Empfinden für Kultur anschaut. Ebenso gibt es die geschichtliche
Betrachtungsweise für die Gehörlosenkultur. Es gibt also
keine endgültige Definition, sondern je nach der wissenschaftlichen
Disziplin wird Kultur anders betrachtet; im Zusammenhang mit Gehörlosen.
Conny: Sehr interessant.
Seit wann spricht man eigentlich von Gehörlosenkultur? Gab
es möglicherweise Einflüsse anderer Länder auf die
Deutsche Gehörlosenkultur?
Simon: Eigentlich gab es
Gehörlosenkultur schon immer. Allerdings waren sich Gehörlose
dessen nicht voll bewusst. Dadurch, dass Gehörlose sich lange
Zeit diskriminiert gefühlt haben und keine Anerkennung erfahren
haben, gab es seitens der Gehörlosen Bestrebungen, vor allem
in Amerika, nach einer gewissen Beschreibung ihrer Gemeinschaft
zu suchen. Dabei haben Gehörlose bei anderen Minderheiten entdeckt,
dass diese auch von einer eigenen Kultur sprechen. So haben Gehörlose
auch von ihrer Gehörlosenkultur gesprochen. Hauptsächlich
kam dies aber durch politische Bestrebungen, um ihre eigene Kultur
transparent zu machen. Durch diesen Prozess haben Gehörlose
ein ganz anderes Bewusstsein entwickelt. Erst danach ist der Begriff
„Gehörlosenkultur“ selbstverständlich geworden.
Somit hatte die Gehörlosenbewegung in Amerika ihre Auswirkungen
auch in Deutschland.
Conny: Hat sich die Gehörlosenkultur
eigentlich in den letzten Jahren verändert? Oder eher nicht?
Simon: Nein, das hat sie
eigentlich nicht. Gehörlose haben schon immer von eigenen,
bestimmten Verhaltensmustern gesprochen. Wie gesagt, sie waren sich
ihrer Kultur nur nicht bewusst. Gehörlose haben sich teilweise
sogar für ihre Gehörlosigkeit geschämt. Erst durch
den Bewusstseinswandel haben sie Stolz für ihre eigene Kultur
entwickelt. Im Zuge des tieferen Ergründens, was ihre Kultur
ausmacht, sind viele Dinge erst klar geworden. Dementsprechend wollten
Gehörlose dies auch vermitteln. Somit wurde das Kulturangebot
von Gehörlosen viel facettenreicher. Das hat sich z.B. im Theater
und in der Poesie gezeigt.
Zuspielung / Marco Lipski und Susanne Genc in
„Gehörlos so!“
Conny: Eines interessiert
mich besonders. Eltern geben ihren Kindern auch Kultur weiter. Die
meisten Gehörlosen haben aber hörende Eltern. Wie können
hörende Eltern die Kultur Gehörloser vermitteln, wenn
sie diese nicht kennen? Das ist doch für die eigene Identität
und die Persönlichkeitsentwicklung wichtig!?
Simon: Das Problem ist, dass
hörende Eltern bei ihren gehörlosen Kindern in erster
Linie die Behinderung sehen. Da kommt erst einmal kein Verständnis
für Gehörlosenkultur auf. Eltern wissen nicht, dass Gehörlose
aufgrund ihrer starken visuellen Orientierung eine eigene Kultur
haben. Deshalb können hörende Eltern von gehörlosen
Kindern diese Kultur nicht vermitteln. Hörende Eltern sind
erst einmal von der Gehörlosenkultur abgeschnitten. Die Kinder
werden oft erst im Kindergarten oder in der Schule mit der Gehörlosenkultur
konfrontiert. Hier müssen in der Zukunft neue Angebote geschaffen
werden, z.B. in Form von Elternseminaren für hörende Eltern.
Dadurch können dann den Kindern kulturrelevante Sachen vermittelt
werden, um eine frühzeitige Identitätsentwicklung für
das gehörlose Kind zu ermöglichen.
Paddy Ladd mit Dolmetscher: Dieses
Buch hat 520 Seiten. Ich kann den Inhalt dieses Buches nicht innerhalb
einer Stunde vermitteln. Normalerweise brauche ich für meine
Seminare ein ganzes Jahr dafür.
Conny: Das ist er, Dr. Paddy
Ladd aus England. Er arbeitet am Centre for Deaf Studies, an der
Universität in Bristol. Vor kurzem hat er ein Buch veröffentlicht,
mit dem Titel „Gehörlosenkultur verstehen – Auf
der Suche nach Deafhood.“
Buchtitel „Understanding
Deaf Culture – In Search of Deafhood“
Conny: Du verwendest den
Begriff „Deafhood“. Kannst du uns erklären, was
damit gemeint ist?
Paddy: Es gibt im Englischen
das Wort „Deafness“, also Gehörlosigkeit. Damit
wird eigentlich die Sicht der Hörenden auf Gehörlose ausgedrückt;
ein Mensch, der nicht hören kann. Das ist aber nicht mein Wunsch.
Wir Gehörlose verstehen uns ganz anders, viel selbstbewusster.
Deafhood impliziert die Gleichstellung Gehörloser gegenüber
Hörenden und lehnt das Defizitdenken der Hörenden ab.
Die Kultur Gehörloser war früher sehr stark ausgeprägt.
Dann ist die Gehörlosenkultur im Laufe der Zeit fast in sich
zusammengefallen. Sie ist nicht ganz verschwunden, aber beinahe.
Deafhood soll zum Ausdruck bringen, dass die Gehörlosenkultur
in Zukunft, so wie früher, bewusst gestärkt werden muss.
Deafhood soll sich positiv auf die Gehörlosenkultur auswirken.
Projektion: Definition „Deafhood“
Conny: Du hast im Zusammenhang
von Deafhood auch davon gesprochen, dass sich Gehörlose bewusst
werden sollen, dass Gehörlose schon viel früher anders,
viel positiver mit ihrer eigenen Kultur umgegangen sind. Wie stellst
du dir das vor?
Paddy: Hierfür gibt
es zwei wichtige Dinge zu leisten. Zum einen müssen alle Schriften
und Aufzeichnungen von damals gesammelt und in Gebärdensprache
übersetzt und verbreitet werden. Dadurch bekommen Gehörlose
ein Verständnis für ihre Kultur „aus alten Tagen“.
Zum anderen stelle ich mir vor, dass eine Art von Kommission geschaffen
werden sollte, in der sich Gehörlose mit der Kultur von heute
und der Kultur von damals beschäftigen. Gehörlose wurden
zu jener Zeit noch nicht in dem Maße von Hörenden beeinflusst
und unterdrückt. Hier gilt es, die Einflüsse und deren
Auswirkungen zu beseitigen. Die Kultur Gehörloser wurde jahrelang
unterdrückt und missachtet. Und wie kam das zustande? Das lag
daran, dass Gehörlose generell rein lautsprachlich erzogen
worden sind und nicht als gehörlose Menschen mit ihren eigenen
Bedürfnissen im Mittelpunkt standen. Dementsprechend hatte
dies auch negative Auswirkungen auf deren Kultur.
Vortrag von Paddy mit Dolmetscher:
Gehörlose sind auch in der Phase der Dekolonialisierung.
Stellt sich die Frage, wie sich die Kultur der Gehörlosen weiterentwickelt?
Conny: Überall haben
Gehörlose gleiche Erfahrungen gesammelt. Sie sind rein lautsprachlich
erzogen worden und haben sich nicht wirklich unabhängig gefühlt.
Sich dagegen zu wehren, beschreibst du als De-Kolonialisierung.
Können sich Gehörlose voll und ganz von Hörenden
distanzieren?
Paddy: Zu einer völligen
Dekolonialisierung der Gehörlosen wird es wohl nie kommen.
Gehörlose leben immer in mindestens zwei Kulturen. Das wird
auch so bleiben. Allerdings gilt es, ein Bewusstsein für die
Kultur der Hörenden zu entwickeln und dabei auszuwählen,
was von positiver Bedeutung ist. Die eher negativen Aspekte können
sozusagen weggelassen werden. Das halte ich für sehr wichtig.
Darüber hinaus haben sich Gehörlose durch ihre Unterdrückung
sehr zurückgezogen. Zuvor waren sie sehr offen, selbstbewusst
und Hörenden gegenüber aufgeschlossen. Allerdings haben
100 Jahre Diskriminierung dazu geführt, dass sich die Gehörlosengemeinschaft
verschlossen hat. Sie soll nun wieder offener werden und die positiven
Aspekte der Kultur der Hörenden nutzen. Des Weiteren war es
in der Vergangenheit so, dass sich Gehörlose nicht mit anderen
unterdrückten Kulturen und Sprachgemeinschaften verbündet
haben. Das sollte so nicht sein. In den letzten Jahren wurde in
vielen Ländern die Gebärdensprache gesetzlich anerkannt
und somit anderen Sprachen gleichgestellt. Das hat bei den Gehörlosen
viel Freude und Enthusiasmus ausgelöst. Allerdings kam danach
das Gefühl auf, dass dies nicht ausreicht. Gehörlose haben
sich für ihre eigene, gemeinsame Kultur vermehrt stark gemacht.
Jedoch wird vor allem in Westeuropa die Philosophie von individuellem
Denken und Handeln vertreten, so dass Hörende meinen „Das
ist ja schön und gut, dass ihr Gehörlosen eine eigene
Sprache habt. Was aber ist mit dem individuellen Anspruch?!“
Gehörlose machen im Zuge dessen auf ihre eigene Sprache und
das eigene Kulturverständnis aufmerksam. Trotzdem kommt von
Hörenden die Forderung nach Individualisierung. Wobei Gehörlose
dann erklären, dass sie diesen Anspruch erfüllen, aber
gleichzeitig ihr gemeinsames Kulturverständnis leben. Dies
gilt es transparent zu machen.
Buch „Understanding
Deaf Culture – In Search of Deafhood“ von Paddy Ladd.
Erschienen im Centre for Deaf Studies, University of Bristol, United
Kingdom.
www.bris.ac.uk/deaf
Plakat / Kultur und Geschichte Gehörloser
e.V. www.kugg.de
Conny: Ich bin mir sicher,
dass Sie viele neue Eindrücke über unsere Kultur gewonnen
haben. Unsere Kultur ist doch so vielseitig und reich. Wir müssen
uns dessen bewusst sein und dafür sorgen, dass unsere Kultur
weiter gestärkt und gepflegt wird. Tschüss.
Conny Ruppert im Interview mit Paddy Ladd
Text
zur Sendung als PDF
(220 kB)
Bericht: Holger Ruppert
Moderation: Conny Ruppert
Kamera: Giovanni Bassé
Schnitt: Mikhail Stojkovski
Impressum:
Bayerischer Rundfunk, 80300 München;
Redaktion Geisteswissenschaften und Sprachen / SEHEN STATT HÖREN
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