Aktuelles
 

Kulturkonferenz und 4. Jahrestagung
am 1. - 3. Juni 2007 in Wiesbaden / Mainz-Kostheim


Bericht von Helmut Vogel

„Neue Wege in der Gehörlosenkultur:
Deafhood – Audismus – Deaf Studies“


Unter diesem Motto fand vom 1.-3. Juni 2007 die Kulturkonferenz und 4. Jahrestagung des Vereins „Kultur und Geschichte Gehörloser e.V.“ (abgekürzt: KuGG) in Wiesbaden statt. Es war eine besondere und einzigartige Veranstaltung. Etwa 200 Teilnehmer aus ganz Deutschland und einige Teilnehmer aus Österreich kamen in einem Bürgerhaus zusammen. Es gab Vorträge, Workshops, Kunstausstellungen, Filmvorführungen, Theateraufführungen, Museumsführungen und Stadtführungen – alles an drei Tagen!

Dank der Vermittlung von Dieter Fricke, einem gehörlosen Künstler aus Flörsheim bei Wiesbaden, kam der Kontakt zwischen KuGG und dem Gehörlosenverein Wiesbaden zustande, der die gemeinsame Organisation der Veranstaltung möglich machte. In einem Organisationsteam arbeiteten der KuGG-Vorstand, Dieter Fricke und die Vorsitzenden des Gehörlosenvereins Wiesbaden seit einem halben Jahr hervorragend zusammen.

Am Freitag, den 1. Juni begrüßte Helmut Vogel, der Vorsitzende von KuGG, in seiner Eröffnungsrede die Teilnehmer von nah und fern. Wolfram Durth, der Vorsitzende des Gehörlosenvereins Wiesbaden, hieß die Teilnehmer in der bekannten Kurstadt und hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden willkommen.
Als nächstes erklärte Helmut Vogel, selbst Pädagoge und Historiker, in seinem einführenden Vortrag, dass die neuen Begriffe „Deafhood“, „Audismus“ und „Deaf Studies“ von hoher Bedeutung für die Weiterentwicklung unserer Gehörlosenkultur sind. Er wies darauf hin, dass die neuen Begriffe von Forschern der Deaf Studies (Studien über die Gehörlosen) entwickelt wurden, und auch wir vermehrt Forschung in diesem Bereich benötigen.
Helmut Vogel erinnerte die Teilnehmer an den Auftritt von Dr. Paddy Ladd aus Bristol/England vor drei Jahren bei der 2. KuGG-Jahrestagung in Heidelberg, wo er erstmals in Deutschland ein Referat über den neuen Begriff „Deafhood“ hielt. Ladd, selbst ein gehörloser Kulturwissenschaftler, hat den Begriff der Deafhood (auf Deutsch: Taubsein) als Gegensatz zum Begriff „Deafness“ (auf Deutsch: Taubheit/Gehörlosigkeit) geprägt. Deafhood (Taubsein) bestimmt das kulturelle Modell, genauso wie die Gebärdensprache, die Gehörlosenkultur und die Gehörlosengemeinschaft. Im Gegensatz dazu stehen im medizinischen Modell (der Gehörlosigkeit) der Verlust oder die Verminderung der Hörfähigkeit im Vordergrund.
Der Begriff „Gehörlosenkultur“ ist nach wie vor nicht wegzudenken, braucht jedoch die Deafhood, damit die Begriffe sich gegenseitig stärken können. Schließlich soll die Gehörlosenkultur sich mehr positiv entfalten und weiter entwickeln können.

Weiterhin erläuterte Helmut Vogel, dass der bundesweite Verein KuGG seit mehreren Jahren regelmäßig Veranstaltungen organisiert hat. Die Kontinuität der Kulturarbeit ist wichtig, damit die Teilnehmer immer wieder zusammen kommen und sich kontinuierlich austauschen können. Das wird so weitergehen und soll durch neue Angebote für die Bereiche Kunst, Geschichte, Theater, Film und Deaf Studies in Form von Workshops, Seminaren, Führungen etc. erweitert werden. Die KuGG ist in erster Linie für gehörlose Kulturschaffenden und Kulturforscher da und fördert sie mit der Hilfe von 200 Mitgliedern. Somit können die kontinuierliche Kulturarbeit und die Weiterentwicklung der Gehörlosenkultur gefördert werden und gesichert bleiben.

Das Vortragsthema von Dr. Christian Rathmann hieß Deafhood. Der gebürtige Deutsche hat zehn Jahre lang als Gebärdensprachlinguist in Amerika studiert und gearbeitet. Seit einem halben Jahr arbeitet er im „Center for Deaf Studies“ (Zentrum für Deaf Studies) an der Universität in Bristol/England und ist ein Kollege von Paddy Ladd.
Den Namen Christian Rathmann kennen viele Teilnehmer, da er sich im letzten Jahr um die Professorenstelle am Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser an der Universität Hamburg beworben hat. Zu Beginn seines Vortrages erläuterte Christan Rathmann, dass Deafhood sich mit der Existenz der Gehörlosen auf der Welt befasst. Wir sollen uns austauschen und erklären, wer und was wir sind, sowohl als gehörlose Menschen als auch als die Gehörlosengemeinschaft. Alle, die zur Gehörlosengemeinschaft gehören, fühlen sich durch das Taubsein und die gemeinsame Sprache und Kultur miteinander verbunden. Sie haben auch gemeinsame Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der hörenden Umwelt. Daher ist die Gehörlosengemeinschaft eine kollektive Existenz und hat eine Stärke, die uns in der Entwicklung unseres Selbstbewusstseins als Gehörlose hilft.
Da diese Entwicklung von Person zu Person und von Gemeinschaft zu Gemeinschaft verschieden ist, bleibt Deafhood offen und flexibel. Sie befindet sich immerwährend in einem Entwicklungsprozess, ohne ein konkretes Ende erreichen zu wollen. Der Prozess soll immer weiter gehen. Wir sollen uns auf eigene Stärken konzentrieren und uns gemeinsamer Werte bewusst werden. Wir brauchen auch einen Rückblick in die Gehörlosengeschichte. Daraus können wir positive Fähigkeiten entwickeln.

Christian Rathmann wies darauf hin, dass das Bewusstsein über Deafhood eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Beendigung der Krise an der Gallaudet-Universität im letzten Jahr gespielt hat. Er zeigte viel Hintergrundwissen über die Ansichten verschiedener Gruppen über die Zukunft der Gallaudet-Universität und der Gehörlosengemeinschaft. Christian Rathmann meinte, viele Menschen hätten dank zahlreicher Proteste an der Gallaudet und Gebärdensprachfilme (Vlogs) im Internet besser verstanden, was die Konzeption Deafhood bedeutet. Deswegen waren sie bereit, die Proteste anhaltend bis zum erfolgreichen Ende zu unterstützen. Zur Überraschung der Teilnehmer erzählte Christian Rathmann, dass Paddy Ladd in einem Interview im März dieses Jahres auf einer Konferenz an der Gallaudet-Universität sagte, Deutschland ist nach den USA als zweites Land dabei, sich ausführlich mit Deafhood auseinanderzusetzen. Rathmanns Vortrag hat einen starken Eindruck bei den Teilnehmern hinterlassen.

Passend zu dieser Thematik wurde in den Pausen ein halbstündiger Film am Stand vom Gehörlosenverein Mainz gezeigt. Einige Mitglieder des Gehörlosenvereins haben als „Tent City Mainz“ die Proteste an der Gallaudet-Universität unterstützt. Es gab etwa 70 „Tent Cities“ (auf Deutsch: Zeltlager) in den USA und mehrere in Europa. Der Film wurde aufgrund des großen Interesses der Teilnehmer am Samstagabend noch einmal vor dem ganzen Publikum gezeigt.

Nach dem Abendessen am Freitag zeigte der Gehörlosenverein Wiesbaden eine halbstündige DVD über den 3. Weltkongress der Gehörlosen 1959 in Wiesbaden. Viele Teilnehmer wussten vorher nicht, dass einmal ein Weltkongress vom Weltverband der Gehörlosen in Deutschland stattgefunden hat. Sie verfolgten den Film mit großem Interesse. Damals kamen etwa 5000 Teilnehmer aus aller Welt zusammen.
Als Zeitzeuge wurde der bald 80jährige Kurt Eisenblätter, ein bekannter Theaterschauspieler aus Berlin, mit seiner Frau Gertrud nach Wiesbaden eingeladen. Er erzählte in seiner humorvollen Art über den Auftritt des Deutschen Gehörlosen-Theaters (DGT) beim 3. Weltkongress. Als Hauptdarsteller im Stück „Hamlet“ hatte Kurt Eisenblätter entscheidenden Anteil am Durchbruch des DGT als bekannte internationale Theatergruppe.

Der zweite Tag begann mit einem zehnminütigen Film von Ege Karar und Kilian Knörzer (beide aus Aachen) über Audismus. Die beiden überlegten sich, was Audismus bedeuten soll. Danach kam Hartmut Teuber, ein gebürtiger Deutscher aus Boston/Amerika, auf die Bühne. Er lebt seit den 60er Jahren in Amerika und hat dort als Pädagoge und Linguist gearbeitet. Hartmut Teuber ist ein altbekannter Kämpfer für die Emanzipation der Gehörlosenbewegung und hat sich seit längerer Zeit mit dem Begriff „Audismus“ befasst.
Interessanterweise hat er das Wort „taub“ und „Taube“ in seinem Vortrag konsequent benutzt. Denn er hält das Wort „gehörlos“ für problematisch, da es das Defizit hervorhebt und zum medizinischen Modell gehört. Das Wort „taub“ bezeichnet hingegen Gehörlose und Schwerhörige, die die Gebärdensprache verwenden und in der Gehörlosengemeinschaft verkehren. Teuber empfiehlt, „taub“ als Bezeichnung einzuführen, indem wir uns immer wieder selbst so bezeichnen. „taub“ ist als Begrifflichkeit einfacher zu begreifen und auch gesellschaftlich vielleicht schneller zu akzeptieren, als „gehörlos“. Denn „gehörlos“ ist für die deutsche Sprache anders zu verstehen, als ähnliche zusammengesetzte Adjektive, wie „geschmacklos“, „geruchlos“ usw.

Hartmut Teuber erklärte ausführlich Merkmale und Folgen von Audismus. Audismus meint die Überbewertung des Hörens und Sprechens und die Abwertung der Gebärdensprache. Seit Jahrhunderten wird immer wieder argumentiert, dass erst die Lautsprache den Gehörlosen zu einem Menschen mache oder dass die Gebärdensprache eine Sprache ohne Grammatik sei. Es wurde immer wieder gesagt, dass die Fähigkeit, zu sprechen über allem anderen stehe. Für Teuber stellt sich Audismus als eine andere Form von Rassismus dar. So wird der Begriff für sein Publikum und die Öffentlichkeit deutlich. Der Audismus kann verdeckt bis offen in Erscheinung treten, und sich in verschiedenen Bereichen (wie zum Beispiel Bildung, Familie, Gesellschaft, Sozialpolitik, Geschichte usw.) zeigen. Hartmut Teuber zeigte eine von ihm selbst erstellte Definition von Audismus und machte auf die Ähnlichkeiten mit anderen „–ismen“ aufmerksam (z.B. Rassismus, Kolonialismus, Sexismus, Antisemitismus usw.).

Audistische Einflüsse haben Gehörlose und Schwerhörige schon mehr oder weniger übernommen. Dadurch wird das Leben dieser Menschen unnötig schwer gemacht. Es ist besonders wichtig, dass wir uns von den negativen Einflüssen freimachen, die unser Leben erschweren. Vor allem von dem Glauben, dass wir vieles nicht können und dass Hörende besser sind als wir. Um diese Einflüsse wieder abzubauen, bedarf es eines gemeinsamen Heilungsprozesses in Form von Selbstfindungsseminaren. Die Bedeutung des Hörens und Sprechens darf nicht überbewertet werden.
Teubers Spruch „Bleib taub!“ statt „Bleib gesund!“ wurde unter den Teilnehmern schnell angenommen. Am Ende bekam Hartmut Teuber viel Beifall für seinen temporeichen und intensiven Vortrag.

Nach der Mittagspause kamen die fünf Kunstaussteller (Dieter Fricke, Reiner Mertz, Jürgen Klein, Bärbel Feß-Kaiser und Wolfgang Schinmeyer) auf die Bühne, um über ihre Arbeiten und Erfahrungen als Künstler und Kunstmaler zu erzählen. Sie haben in einem zweiten Raum ihre Werke ausgestellt.
Anschließend gab es Workshops zu folgenden Bereichen: Kunst, Geschichte, Film/Theater, Deaf Studies und Audismus. Hier konnten die Teilnehmer diskutieren, welche Verbesserungen es in Zukunft geben sollte. Beim Workshop Audismus kamen die meisten Teilnehmer zusammen und diskutierten, ob in verschiedenen Fällen von Audismus die Rede sein kann und was dagegen getan werden kann.

Zu Ende stellte Helmut Vogel eine Wiesbadener Erklärung in Stichworten als Zusammenfassung von beiden Tagen im Namen der KuGG vor. Er forderte die Teilnehmer auf, dass sie nach außen weiter vermitteln, um die Gehörlosen-/Gebärdensprachgemeinschaft dadurch zu stärken. Es wurde den Teilnehmern nahegelegt, dass sie vor Ort Diskussionsforen in freier Form bilden sollten, damit sie sich mit anderen Interessierten über die neuen Themen austauschen, das neue Wissen richtig verarbeiten und für die praktische Arbeit umsetzen können. So kann es sich spürbar auf unser Alltagsleben auswirken.
Die Erklärung wurde mit viel Beifall von den Teilnehmern angenommen und wird demnächst veröffentlicht. KuGG wird sich dafür einsetzen, dass der Diskussionsprozess zu dieser Thematik in den nächsten Jahren im Rahmen der Jahrestagungen weitergehen wird.
Zuletzt gab es viel Beifall für die tatkräftige Unterstützung der Mitarbeiter vom Gehörlosenverein Wiesbaden mit dem Vorsitzenden Wolfram Durth.

Nach dem Abendbüffet beim gemütlichen Beisammensein erlebten die Teilnehmer zuerst eine 20minütige Theateraufführung einer Theatergruppe aus Frankfurt. Darin kam es zu einem Streit zwischen Jugendlichen und einem Lehrer, da sie mit dem Druck, CI tragen zu müssen, nicht einverstanden waren, und der Lehrer im Gegenzug nicht gebärden wollte. Am Ende der eindrucksvollen Aufführung verteilten die Jugendlichen Rosen an das Publikum. Das war als eine Art Aufforderung zu verstehen, dass die Teilnehmer im Sinne der Deafhood für die nächste Generation der Tauben kämpfen und gegenüber der CI-Industrie wachsam bleiben sollen. Danach führte Kurt Eisenblätter ein zehnminütiges Theaterstück „Operation“ aus seinem großen Repertoire zu unser Überraschung auf. Sein mimisches und pantomimisches Können war trotz seines hohen Alters noch hervorragend zu sehen.

Am Sonntag, den 3. Juni, dem letzten Tag, gehörten eine Stadtrundfahrt mit dem von der Stadt zur Verfügung gestellten Bus und Führungen mit Martina Bergmann, Mitarbeiterin beim Museumspädagogischen Dienst in Hamburg, im Museum Wiesbaden zum weiteren Rahmenprogramm. Gleichzeitig fand die ordentliche Mitgliederversammlung von KuGG im Bürgerhaus statt mit dem Tätigkeitsbericht, dem Kassenbericht und der Entlastung des Vorstandes. Nach den Diskussionen über die Kultur- und Vorstandsarbeit in den nächsten drei Jahren wurden Helmut Vogel (1. Vors.), Ege Karar (2. Vors., vorher Beisitzer), Jana Schwager (Kassiererin), Herbert Christ (Beisitzer, vorher 2. Vors.) und Sieglinde Lemcke (Beisitzerin, neu) gewählt. Zum erstenmal wurden 5 neue Bereichskoordinatoren für den erweiterten Vorstand gewählt. Die folgenden Personen stellten sich zu unserer Freude zur Verfügung und wurden per Blockwahl einstimmig gewählt: Dieter Fricke (Kunst), Katja Fischer (Deaf Studies), Jochen Muhs (Geschichte), Elisabeth Pinilla-Isabela (Theater) und Georg Eberhard (Film).

Es ist zu hoffen, dass wir die Kulturarbeit in gemeinsamer Regie weiter voranbringen können zu Gunsten der Kulturschaffenden, Kulturfreunde, Gehörlosengemeinschaft und der Öffentlichkeit. Wer mehr über den Verein KuGG und seine Aktivitäten wissen möchte, der kann auf der Website www.kugg.de mehr erfahren. Dort gibt es unter anderem Informationen zu den DVD-Verkäufen über die vorherigen Veranstaltungen in Heidelberg 2004 und Bonn 2005. Wir werden die DVDs zu der Wiesbadener Kulturkonferenz und 4. Jahrestagung auch herausgeben, da wir alle Vorträge aufgenommen haben.

Abschließend ist zu sagen, dass die Kulturkonferenz und 4. Jahrestagung der KuGG als ein wichtiger Schritt für die Gehörlosengemeinschaft zu sehen ist. Wir haben uns viel Zeit genommen, die Vorträge und Diskussionen mitzuverfolgen und zu verstehen, was die/der andere gemeint hat. Es war eine Art gemeinsamen Willens und Geschlossenheit zu beobachten. Die verschiedenen Gebärden für Deafhood/Taubsein und Audismus wurden diskutiert, ohne sich gleich auf eine endgültige Gebärde festzulegen. Wir sollten uns auch Zeit lassen, bis die bestimmten Gebärden von der Gehörlosengemeinschaft akzeptiert werden.

Am Ende der Veranstaltung konnte man ein starkes Gemeinschaftsgefühl im Raum spüren. Hervorragende Vorträge der Referenten, interessante Diskussionen unter den Teilnehmern, ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm, die tatkräftige Unterstützung seitens der Mitarbeiter und die souveräne Leitung der ganzen Veranstaltung seitens des Organisationsteams haben insgesamt zu einem einzigartigen und unvergesslichen Erlebnis beigetragen.

Helmut Vogel

Programm und Informationen

 

 
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