Es war ein trauriger Tag am 16.11.2010 für
viele tauben und gebärdensprachigen Menschen in Deutschland
und weltweit, die Jochen Muhs gekannt haben. Sie haben von
der Familie Muhs mitgeteilt bekommen, dass Jochen Muhs unerwartet
und plötzlich gestorben ist.
Wer sich mit ihm in letzter Zeit unterhalten
hat oder ihn bei seinen Aktivitäten gesehen hat, weiss,
dass er vieles noch vorhaben möchte, da er viel Zeit
als Rentner hätte. Aber es ist anders geworden! Wenn
man mit ihm zusammen durch eine bestimmte Zeit lange geht
oder man für bestimmte Ziele zusammen kämpft,
weiss man, dass er Verschiedenes erlebt und erreicht hat.
Sein besonderer Moment war, dass er bei den 4. Deutschen
Kulturtagen in Köln 2008 mit einem Kulturpreis vom
Deutschen Gehörlosen-Bund für seine zahlreichen
Engagements, vor allem für die Deaf History, geehrt
worden ist.
Jochen Muhs wurde am 4.9.1942 in Berlin im Stadtteil Kreuzberg
geboren. Nach dem Krieg ging er zur Gehörlosenschule
an der Naunynstrasse. Er erlebte wie alle anderen den lautsprachlichen
Unterricht durch. Umso mehr fand er Interesse an der lebendigeren
Kommunikation seiner Mitschüler, die selbst gehörlose
Eltern hatten. Seine Mutter tolerierte die gebärdensprachliche
Kommunikation der Kinder. Er war später froh darüber.
Er hatte viel Interesse für das Lesen und blieb ein
Freund von Büchern und Zeitschriften.
Danach erlernte er den Beruf als Schriftsetzer
und blieb für etwa 40 Jahre in der Firma in Berlin-Kreuzberg
bis zur Rente. Mit seinen visuellen und manuellen Fähigkeiten
hatte er viel Freude daran. Aus seinem Berufsleben brachte
er das auch für die Vereinsarbeit und die Öffentlichkeitsarbeit
mit. Er lernte die Monika aus Köln kennen und lieben.
Sie hat an der Kunstakademie studiert. Von ihr sind heute
viele schönen Aquarell-Zeichnungen bekannt. Für
Jochen war es undenkbar, von seiner geliebten Stadt wegzuziehen,
auch wenn die Stadt eine „Insel“ inmitten der
damaligen DDR war. So zog die Monika nach Berlin um und
sie bekamen zwei Töchter Birgit und Claudia, die heute
die Mütter von drei kleinen Kindern sind.
Jochen trat in den damals bekannten und seit
1900 bestehenden Berliner Taubstummen-Schwimmverein (BTSV)
ein. In diesem Verein spielte er aktiv Tischtennis. Er lernte
taube Persönlichkeiten in Berlin und Deutschland kennen.
Er war frühzeitig bereit, die Verantwortung zu übernehmen.
Da liess er sich als 1. Vorsitzender wählen und blieb
für 19 Jahre bis etwa 1985 Vorsitzender. Die Jugendabteilung
des BTSV organisierte 1977 ein großes Internationales
Jugendfestival in Berlin. 1979 wurde die „Deutsche
Gehörlosen-Sportjugend“ (DGSJ) als eine eigenständige
Jugendorganisation des Deutschen Gehörlosen-Sportverbandes
gegründet. Da wurden viele junge, engagierte Gehörlose,
darunter Rudi Sailer, Wolfgang Schmidt, Karl-Werner Broska,
Jochen Muhs usw., aktiv und sie organisierten für die
Jugend- und Bildungsarbeit mit viel Engagement bis Anfang
der 90er Jahre. Als Referent für Internationale Begegnungen
im DGSJ-Vorstand führte Jochen gerne die Jugendreisen
in verschiedene Länder durch. Bei den 14. Weltspielen
der Gehörlosen (heute Deaflympics) 1981 in Köln
war er als hervorragender Fotograf unterwegs, er war bis
zuletzt ein Freund der Fotografie.
In den 80er Jahren entwickelte sich etwas
Neues aus den Gebärdensprachforschungen, die zuerst
an der Universität Hamburg begonnen worden ist. Wie
viele anderen war Jochen zurückhaltend, fand später
reichlich Interesse. Sein einschneidendes Erlebnis war im
Sommer 1989 die Teilnahme beim Kulturfestival Deaf Way I
an der Gallaudet-Universität in Washington, D.C./USA.
Er hat viele interessante Vorträge und Auftritte in
Gebärdensprache miterlebt. Dort ist es ihm klar geworden,
wie wichtig die Gebärdensprache für das Leben
und die Bildung der tauben Menschen ist. Es war praktisch
sein geistiger „Mauerfall“, seitdem wurde es
ein neuer Lebensabschnitt für Jochen.
Genau zu dieser Zeit konnte er die Sternstunde
der deutschen Geschichte glücklich miterleben, nämlich
den Mauerfall dank der friedlichen Revolution von den Bürgern
in der DDR und den Ostblockstaaten, die Mauer und der eiserne
Vorhang waren weg! Jochen verfolgte mit Interesse mit, wie
Berlin wieder eine pulsierende deutsche Hauptstadt geworden
ist. Für ihn war auch die Reichstagsverhüllung
1995 eine der interessanten Höhepunkte, er organisierte
die Treffen mit dem Künstlerehepaar Christo und Jean-Claude
mit den Gehörlosen. Wer ihn bei seinen Führungen
in der Stadt miterlebt hat, weiß zu schätzen,
wie viel er über seine Stadt und die Deaf History Berlin
erzählen kann.
Jochen Muhs gründete 1989 das Kommunikationsforum
(Kofo) nach dem Vorbild einiger westdeutschen Städte
und leitete es lange Zeit. Mit anderen engagierten Kursleitern
wie Gunter Trube (vormals Puttrich-Reignard), Sabine Fries
und Jens Hessmann gründete Jochen eine „Landesarbeitsgemeinschaft
der Gebärdenkursleiter/innen“. Sie weckten viel
Interesse bei den hörenden Menschen an der „schönen“
Gebärdensprache. Jochen Muhs und Gunter Trube kamen
auf die Idee, ein Gebärdensprachfestival mit Preisverleihung
nach dem Vorbild des Berliner Filmfestivals auszurichten.
Heute ist das Festival eine der bekanntesten Festivals in
Europa, das bis jetzt siebenmal ausgetragen wurde.
Ab 1997 wurde Jochen Muhs 2. Vorsitzender
und von 2003 bis 2008 1. Vorsitzender des Gehörlosenverbandes
Berlin. Dem Gehörlosenverband Berlin mit seinem Engagement
ist es inzwischen gelungen, dass 1999 Berlin als erstes
Bundesland die Gebärdensprache durch das Landesgleichberechtigungsgesetz
anerkannt hat. Das war vor dem Bundesgleichstellungsgesetz
2002 geschehen. Für ihn war es eine Freude, als sich
der 2009 neugewählte DGB-Präsident Rudi Sailer
zum Ziel gesetzt hat, die Geschäftsstelle nach Berlin
zu verlegen, und in diesem Jahr umgesetzt hat. Als Vorsitzender
des Gehörlosenverbandes Berlin hatte er mit dem Antrag
bei der Mitgliederversammlung des DGB zweimal dafür
geworben.
Zu Anfang der 90er Jahre fand Jochen sein
Herz besonders in einem neuen Gebiet, die Deaf History (Gehörlosengeschichte).
Von der Jugendzeit an interessierte er sich schon für
die allgemeine und deutsche Geschichte. 1989 erlebte er
die Vorträge über die Deaf History beim Kulturfestival
Deaf Way I mit. Nach der Wiedervereinigung 1990 begann er
an der reichhaltigen Bibliothek der Hörgeschädigtenschule
Leipzig zu forschen. Er veröffentlichte die ersten
Beiträge in der Zeitschrift „Das Zeichen“
und in der Deutschen Gehörlosenzeitung (DGZ). Er hielt
die verschiedenen Vorträge. Beim 2. Internationalen
Kongress der „Deaf History International“ (DHI)
in Hamburg 1994 war er mit einem Vortrag dabei, nachdem
die DHI 1991 beim 1. Int. Kongress in Washington, D.C. gegründet
worden ist. In Hamburg wurde er in das DHI-Präsidium
als Beisitzer gewählt und blieb für 15 Jahre im
Präsidium, davon 9 Jahre als Vizepräsident, bis
2009. Für ihn war es immer wichtig, dass er sich mit
den Fachkollegen der Deaf History aus verschiedenen Ländern
austauschen und mit ihnen für die internationale Deaf
History engagieren konnte.
Jochen Muhs war der Gründer der „Interessengruppe
zur Deaf History“ in Deutschland. Prof. Renate Fischer
vom Institut für DGS an der Universität Hamburg
hat ihm empfohlen, nachdem Fischer mit den Mitarbeitern
vom Institut für DGS den 2. Internationalen Kongress
in Hamburg ausgerichtet hat. So rief Jochen Muhs zum ersten
Deaf History-Treffen 1996 in Leipzig auf, wo etwa 30 Interessierte
teilnahmen. Die Interessengruppe sollte offen für die
Interessierten im deutschsprachigen Raum sein. Jochen war
in den ersten fünf Jahren Teamleiter dieser Gruppe.
1998 fand das zweite Treffen im Rahmen der großen
Feierlichkeit vom Landesverband der Gehörlosen Berlin
e.V. unter dem Motto „150 Jahre Gehörlosenbewegung“
statt. Dort war ich zum erstenmal mit einem Vortrag dabei,
nachdem ich seit 1993 über die Geschichte der Gehörlosenpädagogik
und der Deaf History bei Prof. Renate Fischer an der Universität
Hamburg viel erfahren und erforscht habe. In Berlin bin
ich in die Teamleitung mit Jochen gewählt worden, seitdem
arbeitete ich ehrenamtlich eng mit ihm bis zuletzt. Wir
hatten die gleichen Interessen, da die Gehörlosen über
das Leben der tauben Menschen in der Vergangenheit wissen
und das historische Bewusstsein für ihre Gehörlosengemeinschaft
bekommen sollten.
Die andere bestehende Organisation für
die Gehörlosenkultur („Interessengemeinschaft
zur Förderung der Kultur Gehörloser“) gab
es schon seit 1993. Diese Organisation mochte mit der „Interessengruppe
zur Deaf History“ vereinigt werden. In Kiel fand dieser
Prozess einen Abschluss 2001 beim 3. Deaf History-Treffen
anlässlich des 200. Geburtstages von Otto Friedrich
Kruse. So hiess es seitdem „Kultur und Geschichte
Gehörloser e.V.“ unter meiner Leitung als 1.
Vorsitzender. Für die Deaf History lief es nicht so
viel wie vorher, da der Verein vielfältige Aufgaben
verfolgte und die Jahrestagungen zu jedem Jahr für
die Kulturinteressierte organisierte. Jedoch unterstützte
Jochen weiter mit. Jochen war von 2001 bis 2004 2. Vorsitzender
und von 2004 bis 2007 Beisitzer. Ein besonderer Höhepunkt
war 2005 das Symposium in Bonn anlässlich der 60jährigen
Beendigung des 2. Weltkriegs. Nach der Einrichtung von diversen
Bereichen wurde Jochen Muhs von 2007 bis 2010 als Bereichskoordinator
für Deaf History gewählt. 2009 organisierte Jochen
Muhs wieder das 4. Deaf History-Treffen in Leipzig. Im Oktober
2010 war er zum letzten Mal bei unserer Mitgliederversammlung
in Berlin dabei, wo unser Verein zum „Bundesverband
zur Kultur und Geschichte Gehörloser e.V.“ umbenannt
worden ist. So hat er uns 14 Jahre im Verein bzw. Verband
begleitet.
In der historischen Forschung war insbesondere
Eduard Fürstenberg aus Berlin eine große Persönlichkeit
für Jochen Muhs. Er war der Pionier der deutschen Gehörlosenbewegung
im 19. Jahrhundert. Er sah es als eine Aufgabe, dass die
Stadt Berlin den Eduard Fürstenberg mit einem Ehrengrab
gedenken sollte. 2002 ist es Wirklichkeit geworden. Der
Saal im Gehörlosenzentrum Friedrichstrasse wurde auch
nach Fürstenberg benannt. Beim 7. DHI-Kongress in Stockholm,
Schweden 2009 hat er unter dem Titel "Fürstenberg
- eine vergessene Persönlichkeit" referiert.
Jochen Muhs hat sich dafür eingesetzt,
dass die Gehörlosengemeinschaft über die Verbrechen
in der nationalsozialistischen Zeit mit den Gehörlosen
mehr wissen sollte. Es war ein Tabubruch, als er über
die Leiden der zwangssterilisierten Gehörlosen und
gehörlosen Juden in der NS-Zeit zunehmend Vorträge
gehalten hat. Darüber hat er erstmals 1995 eine Ausstellung
im Gehörlosenzentrum Berlin organisiert und viel Kritik
von den Gehörlosen aushalten müssen. Es war an
der Zeit, weil es in der Gesellschaft selbstverständlich
war, darüber offen zu reden und die Gehörlosen
nicht zurückstehen sollten. Heute ist es selbstverständlich
geworden, es gibt verschiedene Literatur darüber.
Aus den Forschungen und den Zeitzeugenerzählungen
hat Jochen Muhs erfahren, wie sich die jüdischen Gehörlosen
in Berlin damals für die anderen Gehörlosen eingesetzt
und vieles gemeinsam durchlebt haben. Die Idee mit der Verlegung
eines Stolpersteines für einen gehörlosen Juden
ist zum erstenmal in Berlin von Jochen verwirklicht worden.
Er hat sich für Paul Kroner entschieden, der sich 30
Jahre lang bis 1933 für die Berliner Verbände
eingesetzt hat. Jochen Muhs hat unter anderem auch gefordert,
dass sich der DGB als Rechtsnachfolger des „Reichsverbandes
der Gehörlosen Deutschlands“ (Regede) für
die Ausgrenzung gehörloser Juden aus der Gehörlosengemeinschaft
und für das in der NS-Zeit erlittene Unrecht entschuldigen
sollte. So hat sich der DGB bei den 4. Deutschen Kulturtagen
in Köln 2008 der Verantwortung gestellt, indem er die
„Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer
Abstammung in Deutschland e.V.“ und dem Israelitischen
Gehörlosenbund eingeladen und sich dafür entschuldigt
hat.
Weiterhin hat sich Jochen mit Heinrich Siepmann,
dem bekannten Präsidenten vom Gehörlosensportverband
für 50 Jahre, nicht leicht gemacht. Er hat sich mit
der Rolle von Siepmann in der Nazi-Zeit auseinander gesetzt,
bis er es vor kurzem mit einem ausführlichen Artikel
abgeschlossen hat und ihn in der DGZ veröffentlichen
ließ. Er hat sich auch für die offizielle Veröffentlichung
des lange Zeit verschollenen Filmes „Verkannte Menschen“
vom Regede aus dem Jahr 1932 eingesetzt. Dieser Film wurde
am 16. Januar 2010 bei der Benefizveranstaltung in Frankfurt/Main
vom Landesverband der Gehörlosen Hessen wiederaufgeführt
und mit einem Vortrag von Jochen Muhs darüber erläutert.
Heute ist er in der Fachwelt als Deaf Historiker
eine hochgeschätzte Persönlichkeit, sowohl in
Deutschland als auch international. Jochen Muhs hat von
sich selbst viel fordern und schaffen können. Für
ihn war die Gleichstellung zwischen den Gehörlosen
und den Hörenden immer wichtig. Er nahm auch kein Blatt
vor dem Mund, wenn er der Meinung war, die Kritiken austeilen
zu müssen. Ohne diese Eigenschaften hätte er vielleicht
nicht viel schaffen können. Besonders werde ich mich
an die vielen Gespräche an den Abenden im Hause von
Jochen und Monika erinnern, wo wir die Welt vergessen und
uns über die Geschichte und die Deaf History austauschen
haben können. Er kann gut lachen, wenn die Diskussionen
ihn angeregt oder ihm gut gefallen haben.
Jochen Muhs war ein Vorbild, dass die Gehörlosen
alles können außer hören. Wir können
noch nicht ganz ermessen, welch einen Verlust er bei uns
hinterlassen hat. Schließlich wünschen wir, seiner
Monika und seiner Familie, viel Kraft für das weitere
Leben. Im Geiste wird er immer bei euch und bei uns sein.
Wir werden ihm dankbar in Erinnerung behalten!
Nachruf
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