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Documenta 11
Bericht von Herbert Christ
Eine Führung in Gebärdensprache bei der Documenta? Oh, dann nix wie
hin... dachten sich einige gehörlose Kunstfreunde. Zumal die bekannte
gehörlose Museumsführerin Martina Bergmann aus Hamburg durch die große
Ausstellung führen wird.
An einem Samstag, den 6. Juli 2002, trafen sich die interessierten
Gehörlosen, aus allen Teilen Deutschlands kommend, am KulturBahnhof
(dem ehemaligen Hauptbahnhof) in Kassel. Am Treffpunkt wurden wir
von Jochen Muhs, 2. Vorsitzender des Vereins "Kultur und Geschichte
Gehörloser" (KuGG e.V.)., der die Führung organisierte, begrüßt.
Am "Himmelsstürmer", einem Documenta 9 -Kunstwerk mit dem himmelwärts
schreitenden Mann auf dem langen Rohr, vorbei, gingen wir erwartungsvoll
in Richtung Fridericianum. Fast alle sind zum ersten Mal auf der Documenta,
der berühmten Welt-Kunstausstellung in Kassel. Die neben der Biennale
in Venedig bedeutendste Ausstellung der Gegenwarts-Kunst (in Malerei
und Skulptur, Fotografie und Videokunst) findet alle 5 Jahre statt.
Das "Museum der 100 Tage", die am 8. Juni eröffnet wurde, läuft hundert
Tage lang, noch bis zum 15. September.
Vor dem Museum Fridericianum, einem klassizistischen Flügelbau, trafen
wir die Museumsführerin Martina Bergmann. Kurz vor halb zwölf begann
die Führung, an dem 22 gehörlose Besucher und 3 Kinder teilnehmen
durften.
Zur Einführung erzählte Martina uns von den Anfängen der Documenta.
Durch die Nazizeit war die Kunst zusammengebrochen. Die Nazis betrachteten
es als "Entartete Kunst". Nach dem Krieg spielte Deutschland in der
internationalen Kunstentwicklung keine Rolle. Der Kasseler Maler und
Kunstprofessor Arnold Bode gründete 1955 die 1. Documenta, um die
Deutschen wieder in die Kunst einzuführen. Nach 1960 war Kunst langsam
wieder selbstverständlich. Die Documenta 10 vor fünf Jahren berücksichtigte
zum ersten Mal auch die "3. Welt", die Entwicklungsländer. Sonst waren
nur westliche Staaten wie Europa, USA usw. vertreten. Es war stark
auf Politik und Gesellschaft bezogen, neben Kunst gab es viel Theorie.
Der aus Nigeria stammende und in New York lebende Documenta-Leiter
Okwui Enwezor macht es möglich, dass bei der Documenta 11 wesentlich
mehr Künstler aus aller Welt, aus Afrika, Asien oder Südamerika an
dieser Weltkunstschau teilnehmen dürfen. Manche sind noch unbekannt
und werden erst durch diese Ausstellung berühmt. Vor der Ausstellung
gab es 4 "Plattformen" auf 4 Kontinenten, es wurde über Kunst und
Politik, Architektur und Globalisierung diskutiert. "Plattform 5"
ist die Schau in Kassel, zu der mehr als eine halbe Million Besucher
kommen werden.
Die Themen der Documenta 11 sind Probleme der Globalisierung und Urbanisierung.
Gesellschaftskritische Kunst spielt hier eine bedeutende Rolle. Über
100 Künstler sind vertreten. Oftmals haben Künstler eigens für die
Documenta Projekte oder Kunstwerke geschaffen. Manche haben ihre Wut
in die Kunst umgesetzt.
Martina begleitete uns durch die Räume und erläuterte uns die Kunstwerke.
Die herumstehenden Stühle, als Zeichen der Folter, sind mit Blei bearbeitet.
Also giftig... anfassen verboten! Viele kleine Alltagsgegenstände
hat ein Afrikaner gesammelt und ausgestellt, wie in einer Boutique.
Sogar haarige Knäuel sind zu sehen, die die Tiere aus ihrem Magen
auswürgen. Die Sachen sind meist ganz schwarz oder gut verpackt. Große
Bilder wurden einfach auf Rollen verstaut.
In einem geschlossenen (!) Glaskasten sitzen ein Mann und eine Frau
vor Mikrofonen. Sie sprechen die Jahreszahlen aus dem Werk des Japaners
On Kawara "Eine Million Jahre", und das jeden Tag bis zur Ende der
Ausstellung! Damit soll deutlich gemacht werden, dass die Zeit nicht
aufgehalten werden kann. Auch wenn wir die Sprecher nicht hören konnten,
bekamen wir irgendwie ein eigenartiges Zeitgefühl...
In einem großen Raum gab es ein ganzes Atelier zu sehen. Die "Große
Tischruine" von Dieter Roth sah aus wie ein Sperrmüll-Haufen. Alte
Farbdosen und Kleinkram waren, wie alle Gegenstände auch, auf Tischen
und Stühlen festgeklebt. Überall standen im Chaos Filmprojektoren
und Lampen herum. Man fragte sich, ob das Kunst ist.
Einmal gingen wir in einen dunklen Raum und wurden plötzlich von vielen
gleißenden Scheinwerfern geblendet. Wir hatten die Orientierung verloren
und Angst bekommen. Zum Glück wechselte die Beleuchtung und der Ausgang
war erkennbar. Auch in einem weiteren Raum war es an einer Wand unheimlich
hell. Nichts als Licht. Am Eingang stand sogar ein Schild, das vor
gesundheitlichen Schäden warnt. Für uns Gehörlose als Augenmenschen
waren die Erlebnisräume natürlich besonders beeindruckend.
Bei dieser Documenta sind auffällig viele Videos zu sehen. Video-Kunst
scheint wohl die Malerei zu verdrängen. Die Iranerin S. Neshat zeigt
eine Doppelprojektion auf zwei gegenüberliegenden Leinwänden. Man
kann auf beide Seiten abwechselnd blicken und so aus einer anderen
Perspektive des Films das Geschehen folgen. Echt interessant. Wie
Martina uns verriet, ist diese Frau einer ihrer Lieblings-Künstler.
Manche Filme sind einfach zu lang, wir haben keine Zeit zum Angucken.
Den Vogel schießt ein 8 (!) Stunden langer Videofilm ab. Außerdem
vermissen wir die Untertitelung der Filme. Meist geht es um Unterdrückung
und Ausbeutung von ethnischen Minderheiten oder um Emigranten.
Verständlicherweise konnte Martina wegen der begrenzten Zeit uns nicht
durch alle Werke im Museum führen. Die oberen Etagen im rechten Flügel
mussten wir auslassen. Kaum waren wir draußen, zeigte sich eine Gehörlose
ganz begeistert von Martinas "Führungsqualitäten". Vor allem über
ihre klare, ausdrucksstarke Gebärdensprache, die auch die komplizierteren
Inhalte mancher Kunstwerke verständlich machen konnte.
Nach einer Pause, wo wir uns an Imbiss-Ständen kräftigten, ging es
zu Fuß weiter in die nahe gelegene neue Documenta-Halle. Martina war
wieder da und erläuterte uns Werke, die die Probleme in Israel und
Palästina aufzeigen. Man kann hier gut die "Postkarten-Idylle" mit
der Realität vergleichen. Auf dem Boden der Halle sind weiße Streifen
aufgemalt, die ein großes Netz bilden. Damit wird aufgezeigt, dass
viele Menschen aus Angst hin und her ziehen. Die Texte an den Wänden
waren meist nur in Englisch, aber wir hatten ja Martina...
Wir betraten einen Raum, in dem Unmengen von Kabeln hingen, von denen
unzählige Kopfhörer herunter baumelten. Für uns Gehörlose könnte das
Ganze wie ein Albtraum aussehen, wie eine Welt, in der nur noch das
Hören zählt. Im "Informationszentrum" im unteren Teil der Halle konnten
die gelangweilten Kinder so lange an den Computern spielen, bis ihre
Eltern von der Führungs-Tour zurückkamen.
Martina erläuterte manches auch auf Gehörlose bezogen, nannte Beispiele
aus der Gehörlosenwelt oder gar eigene Erlebnisse, die oft zum besseren
Verständnis beitragen konnten. Auch die Hintergründe der Kunstwerke,
beispielsweise Land und Politik, versuchte sie uns zu vermitteln.
So kam es mal vor, dass wir lange an einem Fleck standen, und einige
müde gewordene Teilnehmer meinten, sie erzählt manchmal doch zu ausführlich
und zu lang.
Nicht selten wird Martina von den anderen Besuchern selbst als Kunstwerk
bestaunt! Vorbeigehende blieben vor ihr stehen und schauten ihren
schnellen Armbewegungen zu. Worüber wir uns natürlich amüsierten.
Mit dem Documenta-Bus fuhren wir weiter zur ehemaligen Binding-Brauerei,
die etwas abseits der Stadt liegt. Mit dieser Halle hat sich die gesamte
Ausstellungsfläche sogar fast verdoppelt, so gab es sehr viel zu sehen,
was man kaum an einem Tag schaffen könnte. Die große Halle wurde in
viele kleine Räume aufgeteilt, wie in einem Labyrinth, wo man sich
leicht verlaufen konnte.
Martina erläuterte uns die großformatigen Fotografien von Candida
Höfer, die übrigens aus Eberswalde stammt. Sie hat alle zwölf Abgüsse
der "Bürger von Calais" von Rodin fotografiert, die in der ganzen
Welt verstreut aufgestellt sind. Ihre Fotos versuchen, die Welt aufzuzeichnen,
zu archivieren. Wie auch der Japaner R. Miyamoto mit den eindringlichen
Schwarzweiß-Fotografien von der Stadt Kobe nach einem schweren Erdbeben.
Bilder sagen mehr als tausend Worte... so ließ Martina uns ohne Kommentar
die Bilder anschauen.
Von der Rauminstallation des New Yorker Architektenteams 'Asymptote'
mit Datenstrom-Projektionen und vielen Spiegeln waren viele begeistert.
Der frei schwebende, schlauchförmige Körper mitten im Raum erscheint
wie eine Flüssigkeit, durch die Spiegeln ins Unendliche vervielfacht
und verlängert. Die Installation "Artikuliert - Unartikuliert" der
Französin A. Messager ist so beeindruckend wie gespenstisch. Zu sehen
sind in einem großen Raum menschliche Puppen und große Stofftiere,
die abgeschnürt und zerstückelt sich wie Marionetten von der Decke
auf und ab bewegen. Dazu wackeln und zucken ein paar riesige Hände
aus Plüsch. Damit soll die Künstlerin ihre grausamen Kindheitserlebnisse
verarbeitet haben.
Einige hatten die Gehörlosen-Gruppe aus den Augen verloren und konnten
sie im Labyrinth der Halle nicht mehr finden. Erst am Ende der Führung
vor der Garderobe draußen traf man sich erleichtert wieder. Für einige,
vor allem ältere Gehörlose, war der Ausstellungsbesuch recht anstrengend,
trotzdem hielten sie tapfer bis zum Schluss durch. Vielleicht wollten
sie einfach nicht die interessanten Erklärungen, ja keine Gebärde
von Martina verpassen. Insgesamt hatte die Führung ganze 5 Stunden
gedauert! Durch die Ausstellung erfuhren wir viel Negatives aus der
Welt, jede Menge Probleme und Konflikte... und das konnte einem schon
pessimistisch werden lassen.
Nach der Verabschiedung von unserer Kunstführerin gingen wir am Abend
noch zu Fuß zum Clubheim der Gehörlosen in Kassel, wo wir uns ausruhten
und unterhielten, bis wir schließlich die Heimreise antraten.
Es war ein schöner Tag in Kassel, mit einer interessanten Führung
bei der Documenta, wofür wir uns bei Martina Bergmann und auch beim
Organisator Jochen Muhs herzlich bedanken.
Herbert Christ
Fotos: Werner Vogel
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