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 120 Jahre Gehörlosen-Theater


Bericht von Herbert J. Christ

Am 30. November 2002 feierte das Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation Gehörloser Berlin/Brandenburg e.V. (ZfK) das 120-jährige Bestehen des Berliner Gehörlosen Bühnenclubs. Im Rahmen dieser Feier sollte auch der kürzlich vom Landesverband Brandenburg und dem ZfK ins Leben gerufene Kulturpreis an verdiente Persönlichkeiten verliehen werden.
Die Feier fand im Wilhelm-Mertens-Haus, auch "Soziokulturelles Zentrum" genannt, an der Schönhauser Allee im Ostteil Berlins statt. Man war überrascht, wie viele bekannte gehörlose Persönlichkeiten aus ganz Deutschland gekommen waren. Im Barraum konnte man Ulrich Hase oder Jürgen Stachlewitz antreffen. Und Marco Lipski stand an der Bar.
Nachdem Christina Schönfeld mit einer Rede die Veranstaltung eröffnete, erzählte Harald Weickert, der Geschäftsführer des Bühnenclubs, die Geschichte des Berliner Gehörlosen-Theaters.
Schon bei den großen Kirchentreffen der Gehörlosen um die Zeit von 1850 bis 1870 hatten die Mitglieder des ersten deutschen Taubstummenvereins Theaterstücke aufgeführt. Als einige Zeit lang das Theaterleben verstummte, regte Eduard Fürstenberg (der Gründer und Vorsitzender dieses Vereins) an, einen Theaterverein zu gründen. So entstand im Jahre 1881 (gerade zu der Zeit des berüchtigten Mailänder Kongress) der "Erste Taubstummen Theaterverein Frohsinn".
Durch die Folgen des ersten Weltkriegs zerfiel die Theatergemeinschaft, doch schon im November 1918 wurde der "Berliner Taubstummen-Bühnenklub" als Nachfolger gegründet.
Gehörlose Laienschauspieler, die handwerkliche und vor allem künstlerische Berufe ausübten, probten unter schwierigen Bedingungen regelmäßig im Saal eines Lokals in Kreuzberg.
Ein Vorkämpfer der Gehörlosen und des Theaters war Wilhelm Mertens, nach ihm wurde auch das Haus, wo die heutige Feier stattfindet, benannt. Mertens entwarf ein Spielstück über das Leben einer taubstummen Familie, der beim Kirchenfest mit großem Erfolg aufgeführt und später auch verfilmt wurde. Der Film mit dem Titel "Verkannte Menschen" wurde von den Nazis verboten, und der Bühnenklub musste aufgelöst werden.

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs begannen unentwegte Laienschauspieler in einer neuen Gehörlosentheatergruppe zu spielen. Unter der Leitung von Wilhelm Mertens wurden viele bekannte Stücke wie "Fallstaff" oder "Der lustige Figaro" aufgeführt. Zu dieser Zeit entwickelte sich Kurt Eisenblätter zu einem herausragenden Schauspieler.
Nach mehreren Umbenennungen, Aufteilungen und Umbesetzungen der Theatergruppe durch die Teilung der Stadt Berlin, sowie durch die DDR-Politik entstand die "Berliner Laienspielgruppe". Diese Gruppe, nun unter der Leitung von Kurt Eisenblätter, konnte in den 60er Jahren (und noch bis in die 80er Jahre hinein) viele internationale Preise einheimsen. Anspruchsvolle Stücke wie "Faust", "Hamlet" oder "Othello" verhalfen zum Durchbruch. Die Auftritte während der Weltkongresse der Gehörlosen fanden großen Anklang. Dabei verdiente sich Kurt Eisenblätter internationale Anerkennung und hohe Auszeichnungen durch den Weltverband der Gehörlosen (WFD).
Aus der Laienspielgruppe entwickelte sich 1973 eine Pantomimengruppe, die sich später "Pantomimen-Ensemble" nannte, bei dem auch der Hörende Volkemar Otte Regie führte. In den frühen 80ern gewannen die Gruppe sowie Eisenblätter und I. Koschinski den berühmten "Jean G. Deburau Preis". Nach der Wende wurde die Gruppe wieder nach dem traditionellen Namen "Berliner Gehörlosen Bühnenclub" benannt, die noch heute mit alten und neuen Stücken die Zuschauer beglücken.

Natürlich darf bei einer Feier die Gratulationen nicht fehlen, so bekamen für den Bühnenclub Kurt Eisenblätter und seine Frau viele Glückwünsche. Die Gehörlosen-Lehrerin Uta Dörfer gratulierte den beiden besonders herzlich und schenkte einen Stapel Bücher mit dem Lebenslauf eines Gehörlosen. Aus Polen gratulierte der Gehörlosen-Präsident der Stadt Stettin, Jerzy Kaluzny, mit einer schönen Vase.
Nach dem Mittagessen startete das Kulturprogramm, wobei Ralf Engelmann erstmals die Moderation übernahm. Es wurden historische Schwarzweiß-Filme von früheren Theaterauftritten gezeigt. In den kurzen Film-Ausschnitten sah man den jungen Eisenblätter in seinem Element.
Bei den Filmen zur DDR-Zeit amüsierten sich die Gäste über die Haarpracht der Schauspieler, und die waren selbst im Saal... Dann noch dieser Film: Christina Schönfeld und Thomas Zander spielen "Bürokratie" (in Anspielung auf West-Deutschland ?!)

Auch live auf der Bühne wurde gespielt, Rolf Puttrich-Reignard und Thomas Haut sind die beiden "Kampfhähne". Ein altes Theaterstück neu aufgelegt. Als zum Schluss beide mit dem Verband miteinander verwickelt sind, gab es für die gelungene Pointe reichlich Applaus.
Zwischen den Live-Auftritten werden weitere, von der ZfK produzierte Filme gezeigt. Wie zum Beispiel "Montagsfrüh", dem "Rosenkrieg a la Deaf" oder auch die "Bedeutung der Sprache" mit den schlimmen Folgen des Verbots der Gebärdensprache! In einem anderen Film war Regisseur Andreas Costrau völlig "Durchgedreht".
Der wohl witzigste ZfK-Film ist der mit Gunter Puttrich-Reignard als gehörloser (und auch mal als blinder!) Schüler und der sehr strengen Lehrerin (gespielt von Christina Schönfeld), die sogar ein CI zum Qualmen bringen lässt! Kein Wunder, wenn sich das Publikum vor Lachen kaum noch halten kann.

Auch mal was Neues im Programm: OGPE-Comedy aus Mannheim! OGPE... das sind Ogün Yener und Peter Stephan, natürlich beide gehörlos, und fast schon Bühnen-Profis! Durch das Kulturfestival im letzten Oktober in Mannheim kamen sie mit dem Bühnenclub in engen Kontakt.
OGPE gab eine würdevolle Ehrung zum 120jährigen Bestehen des Bühnenclubs ab. Als Kurt Eisenblätter auf der Bühne sich selbst "Rostblätter" nannte, wird er kurzerhand in "Silberblätter" umbenannt, mit der Option auf "Goldblätter", wenn er sich in 10 Jahren weiterhin so aufführt wie sonst.
Als Peter Stephan mit weißen Handschuhen "Shan´s Deaf Dancing" ankündigte, war die Atmosphäre im Saal spannungsgeladen. Eine zierliche Chinesin in traditionellem Gewand tanzte zu unpassend lautem Discomusik "Über Liebe und Sehnsucht". Mit großem, flatterndem Fächer und Tuch in den Händen zieht sie das Publikum in ihren Bann. Außergewöhnlich, denn Hua Shan Bähr ist gehörlos.

OGPE-Comedy, Kurt Eisenblätter

Ein kurzes Vorspiel mit dem Schlagzeug im "Hinterhof" gab Rolf Puttrich-Reignard und warb damit für sein Rockfestival am Abend. Ein orientalischer Bauchtanz mit der gehörlosen Solo-Bauchtänzerin Heike Lüdeke durfte auch nicht fehlen.
Tolles Programm, was die Veranstalter auf die Beine gestellt haben... doch das war längst nicht alles. Noch vor der Kaffeepause gab Giuseppe Giuranna mit seiner Gebärdensprach-Poesie "Leben oder Tod" sein Bestes. Giuseppe bekam kürzlich beim 5. Berliner Gebärdensprach-Festival den Sonderpreis für sein kulturelles Engagement; mit dem gleichen Poesie-Stück hatte er beim Wettbewerb den zweiten Preis gewonnen. Der obligatorische Totenkopf durfte natürlich nicht fehlen und lag auf einer Säule am Bühnenrand. Mitten im Stück, als er den Schädel mit den Händen zu sich riss... Oh Schreck! ...es rutschte ihm aus den Händen und polterte die Treppe runter auf den Saalboden, wobei Teile absplitterten. Ein gruseliges Gefühl schleicht sich ein, irgendwie kein gutes Zeichen. Giuseppe trug´s mit Fassung und spielte seine Poesie zu Ende.

Nach entspannter Unterhaltung wurde es langsam Zeit mit der Verleihung der Kulturpreise. Es sollte schließlich der Höhepunkt des Tages werden, und alle waren gespannt, wer denn die Preise mit nach Hause nehmen durfte. Moderator Mathias Lehmann erklärte, dass die Preise in den drei Kategorien Theater, Kultur-Politik und Medien ausgesprochen werden.
Beim Theater-Preis hielt Giuseppe Giuranna die Laudatio und mit reichlich Applaus wurde Kurt Eisenblätter auf die Bühne gerufen. Den Preis bekam er zu seiner Überraschung von seinem eigenen Enkel überreicht. Die Skulptur, aus zwei modellierten Händen bestehend, war noch so frisch, dass es auf ein Tablett getragen werden musste. Bloß nicht das Kunstwerk anfassen, hatte man dem sichtlich gerührten Preisträger ermahnt. Übrigens wurden die drei Skulpturen von den Künstlern Gina T. (Eisenblätter´s Tochter!) und Kenon entworfen und hergestellt, anscheinend waren sie erst in letzter Minute damit fertig geworden.

Für den Preis der Kultur-Politik rief der Moderator Jürgen Stachlewitz auf die Bühne. "Huch!?, habe ich den Preis bekommen?" wunderte sich Stachlewitz. Ach nee, er solle doch nur die Rede halten, ließ der Moderator wissen. Erst nach einem ausführlichen Lebenslauf mit witzigen und originellen Anekdoten gab Stachlewitz den Preisträger bekannt. Wie einige schon richtig tippten, nämlich Ulrich Hase! Dass er diesen Preis verdiente, stand außer Frage; aber einige wunderten sich schon, dass der Kulturpreis der Gehörlosen Berlin/Brandenburg auch an Persönlichkeiten in ganz Deutschland vergeben wird. Es gibt ja den Kulturpreis des Deutschen Gehörlosenbundes bei den Kulturtagen.

Zum Schluß war noch der Kulturpreis der Kategorie Medien zu vergeben. Uwe Schönfeld zitierte aus der Bibel: "Ehre, wem Ehre gebührt" und machte die Bekanntgabe ebenso spannend. Lange ließ er das Publikum grübeln, bis endlich klar wurde, wer sich als Preisträger rühmen darf: Rona Meyendorf, die Regisseurin von "Sehen statt Hören"-Beiträgen! Und wieder gab es eine Überraschung, der Preis wurde von Rona´s Eltern höchstpersönlich überreicht. Sie wusste bis dato nichts davon, das Versteckspiel glückte den Veranstaltern.
Eine gänzlich gelungene Veranstaltung; ein schöner Tag mit vielen fröhlichen Gesichtern, an dem man sich noch lange erinnern wird.

Herbert J. Christ
(gekürzte Fassung, aus: IM BILDE 3/2002)