Referat von
Manfred Wloka auf der Gedenkfeier zum 200. Geburtstag
von
Carl Heinrich Wilke am 20.5.2000 in Berlin
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Sehr geehrte Damen und
Herren, es ist ein Verdienst der „Geschichtswerkstatt der Gehörlosen“an
diejenigen bedeutenden Gehörlosen zu erinnern, die besonders
im pädagogischen Bereich Großes geleistet haben. Natürlich habe
ich im Rahmen meiner Ausbildung auch viel über die Entwicklung
und Geschichte der Taubstummenpädagogik erfahren, aber eben
doch ganz selten etwas über die Leistungen gehörloser Pädagogen.
Ich muss gestehen, dass Karl Heinrich Wilke mir völlig unbekannt
war.Und wenn meine Kolleginnen und Kollegen ehrlich sind, müssten
sie dies auch für sich zugeben. Um so erstaunter bin ich – wie
wir eben erfahren haben – welche Bedeutung dieser Kollege über
die Gehörlosenbildung hinaus gehabt hat. Als Gehörloser wusste
er am besten, wie wichtig Anschauung für das Verstehen der Welt
nicht nur für gehörlose, sondern auch für hörende Schüler ist.Auf
diese Weise sind doch viele Impulse von der Gehörlosenpädagogik
ausgegangen. Um so wichtiger ist es, immer wieder daran zu erinnern.
Wir sollten uns nicht einbilden, das Rad neu erfinden zu müssen.
Dies gilt auch für Methoden im Unterricht für Gehörlose. Ein
Blick in die Geschichte zeigt uns, dass vieles schon einmal
vorhanden war und lediglich in Vergessenheit geraten ist. |
In
ein paar Tagen, habe ich festgestellt, werde ich 31 Jahre an der
Ernst- Adolf- Eschke- Schule tätig sein. Kein Wunder, meine grauen
Haare beweisen es, dass ich nicht mehr zu den Jüngeren gehöre. Der
Vorteil ist aber, dass ich einen Zeitraum überblicken kann, der
in der Tat einen Wandel in der Pädagogik, nicht nur unserer Schule,
gebracht hat.
Als ich am 1. Juni 1969 meine Arbeit in der Eschke-Schule
begann, hatte ich die Aufgabe, im Kindergarten Vorschüler zu unterrichten.
Wie war die Situation? Es gab Kindergruppen unterschiedlichen Alters
von 4 bis 6 Jahren, wobei der damals tätige Kollege sich in seiner
Arbeit hauptsächlich auf Absehübungen mit der Gruppe beschränkte,
die eingeschult werden sollte. Bezogen auf die Entwicklung von Sprache
gab es außer Bildern und dazugehörende Schriftkarten, welche die
Bedeutung der Bilder bezeichneten, keine anderen wesentlichen visuellen
Hilfen, vor allem keine, die der Kommunikation dienen konnten.Jede
männliche Person war ein Papa und jede weibliche eine Mama .Bei
der Einschulung beherrschten die guten Schüler ungefähr 50 deutsche
Wörter.
Das Fingeralphabet war damals in der Bundesrepublik
fast völlig unbekannt. Ich habe es während meiner Ausbildung durch
Dr. Reinhart Graf in Köln kennengelernt
und zusammen mit ihm auf einer privaten Forschungsreise 1968 nach
Moskau die Anwendung im Unterricht für Gehörlose gesehen. In der
Benutzung des Fingeralphabetes sah ich eine Möglichkeit für gehörlose
Kinder, sich wenigstens schriftsprachlich auszudrücken.Sie konnten
den eigenen Namen mitteilen und man konnte ihnen den Namen fremder
oder bekannter Menschen zufingern oder Dinge benennen, von denen
sie die Bezeichnung wissen wollten. ; denn die Hand hat man ja immer
dabei. Als ich das FA 1970 an unserer Schule im Kindergarten einführte,
gab es viel Widerstand und scharfe Diskussionen unter den älteren
Kollegen. Obwohl mir die Einführung des FA viel Ärger einbrachte,
habe ich in dieser Form weiter gearbeitet und fand bei den Erzieherinnen
große Unterstützung, weil sie die Nützlichkeit des FA in der Praxis
täglich erlebten. Leider lehnen immer diejenigen Neuerungen ab,
die über keine Erfahrungen in der Anwendung, zum Beispiel des Fingeralphabetes,
verfügen. Ich musste auch erfahren, dass man in der Gehörlosenpädagogik
keine Veränderungen durch Revolution erreicht, sondern nur durch
Evolution mit viel Geduld und Ausdauer. Auf diese Weise ist ganz
allmählich – ausgehend von der Vorschule- das FA in die Schule gekommen
und wurde zum Glück von jüngeren Kolleginnen und Kollegen aufgegriffen
und in die Unterrichtsarbeit einbezogen.
Wir waren damals die einzige Gehörlosenschule
in der Bundesrepublik – abgesehen von der DDR – die das FA systematisch
im Unterricht anwendete. Aus heutiger Sicht mag das etwas lächerlich
aussehen, aber es war dennoch ein Fortschritt für uns in der unterrichtlichen
Arbeit. Alle großen Dinge haben einmal klein angefangen. Die Ablehnung
des FA übrigens kam aber nicht nur von den älteren Lehrern, sondern
die erwachsenen Gehörlosen wollten auch nicht den Sinn und Nützlichkeit
des FA einsehen. Auch bei ihnen musste man lange Überzeugungsarbeit
leisten, oft auch ohne Erfolg.
Nachdem ich 1975 Schreiben Sie Ihre Meinung ... eine erste Klasse
übernommen hatte und deshalb intensiver mit der unterrichtlichen
Arbeit in der Schule zu tun bekam, stellte sich die Frage: Mit welcher
Methode man die Schüler an die deutsche Sprache heranführen sollte.
Natürlich war es für mich als Kind gehörloser Eltern kein Problem,
Gebärden zu benutzen. Bereits mit meiner Examensarbeit zur Gehörlosenlehrerprüfung
hatte ich mich in Form von Filmaufnahmen mit den gebärdensprachlichen
Äußerungen erwachsener Gehörloser beschäftigt. Es war die
erste Arbeit in Deutschland, die sich 1969 empirisch mit dem Thema
auseinander setzte.Deshalb war ich auch der Auffassung, dass gehörlose
Schüler, ohne Umweg über den späteren Kontakt zu erwachsenen Gehörlosen,
die Gebärden der Gehörlosensprach- gemeinschaft schon in der Schule
lernen sollten. Diese sollte natürlich der Lehrer vermitteln. Aber
wie viele Lehrer konnten das damals? Die Ausbildung der Lehrer kannte
nur den oralistischen Weg. 1976 fragten mich Eltern, die erhebliche
Kommunikationsprobleme mit ihren gehörlosen Kindern hatten und sich
aus deren Welt ausgeschlossen fühlten, u.a. Herr Kiele, wo sie Gebärden
lerne könnten.Spontan antwortete ich: Bei mir! Es gab übrigens damals
in der gesamten Bundesrepublik noch keine Gebärdenkurse. Tatsächlich
war der Anfang in Berlin. Fast alle jüngeren Kollegen unserer Schule
besuchten regelmäßig meine Kurse, so dass auf diese Weise an der
Ernst-Adolf-Eschke-Schule die Gebärde den Weg in den allgemeinen
Unterricht fand. Auch damals waren einige Gehörlose skeptisch und
sagten, die Hörenden könnten keine Gebärden lernen. Dazu gehören
auch einige, die sich heute zu den Vorkämpfern der Gebärdensprache
zählen. Die Zeit hat mir Recht gegeben. Auch der Gebrauch der Gebärden
in der Sendung“ Sehen statt Hören“ war keine Selbstverständlichkeit.
Das haben wir gegen den Willen des bayerischen
Redakteurs durchgesetzt. Die Erarbeitung des Gebärdenlexikons und
die Einrichtung der Forschungsstelle für Gebärdensprache durch Professor
Prillwitz setzten eine Bewegung in Gang, die den Gehörlosen erst
bewusst machte, dass ihre Sprache tatsächlich eine Sprache ist.
Wie gesagt : Alles hat seine Wurzeln, die auch die Pädagogik in
der Schule veränderten, sowohl in der Vergangenheit als auch in
der Gegenwart. Mit der Übernahme des Amtes als Schulleiter der Ernst-Adolf-Eschke-Schule
hatte ich mehr Einfluss auf die personelle, aber auch auf die inhaltliche
Gestaltung der Schule. Als Schulleiter konnte ich das Verständnis
bei der Schulaufsicht und den zuständigen Verantwortlichen beim
Senator für den Gebrauch von Gebärden als Kommunikationsmittel im
Unterricht wecken. Überzeugungsarbeit nach Außen war sehr wichtig,
um nach Innen Sicherheit zu haben.
Wir waren lange Zeit die einzige Ausbildungsschule
für Lehreranwärter im Fachbereich Gehörlosenpädagogik, und es war
zunehmend selbstverständlich, dass die Lehreranwärter Gebärdenkenntnisse
mitbrachten. Auf diese Weise wuchs eine junge Lehrergeneration heran,
für die Gebärden , aber nicht nur Gebärden, zur einer unterrichtlichen
Kommunikationsform gehören.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen,
dass bei allen Veränderungen der letzten Jahre alte Werte der Gehörlosenpädagogik
ihre Bedeutung behalten. Dazu gehört auch der Bereich der Artikulation.
Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind in jedem Falle besser, wenn
sich unsere Schüler verständlich in gesprochener Sprache äußern
können.
Was hatte sich noch verändert? Seit 1988 benutzen
wir in den Vorklassen LBG, und soweit möglich, auch schon zum Teil
DGS bei der Spracharbeit mit den kleinen gehörlosen Kindern. Im
Gegensatz von vor 30 Jahren erlangen die Vorschüler bis zur Einschulung
eine Kommunikationsfähigkeit, die damals auch unter größten Anstrengungen
nicht erreicht worden wäre. Man kann sich mit den Sechsjährigen
nun über alle möglichen Themen unterhalten. Natürlich geht so etwas
nicht ohne Mitwirkung der Eltern, die möglichst schnell lernen müssen,
mit ihren Kindern zu kommunizieren. Mit der finanziellen Unterstützung
des Bezirksamtes Charlottenburg haben wir seit vielen Jahren Gebärdenkurse
durchgeführt und auch erreicht , dass für die gehörlosen Eltern
bei Elternversammlungen ein Gebärdensprachdolmetscher
anwesend ist.
Durch die Beschaffung von privaten finanziellen
Mitteln konnte ich bereits 1987 den Kauf von damals noch sehr teueren
Computern initiieren, so dass inzwischen das Lernen und Arbeiten
mit Computern von Klasse 1 bis zur 10 Klasse eine Selbstverständlichkeit
geworden ist. Mit dem Internetanschluss haben jetzt auch die Schüler
die Möglichkeit zu lernen, wie man sich weitere Informationen beschafft.
Seit dem Fall der Mauer im November
1999 existieren zwei Gehörlosenschulen nebeneinander mit
zum Teil unterschiedlichen Aufgaben. Das Bildungsangebot für Gehörlose
hat sich durch den Aufbau des Realschulzweiges
an derAlbert Gutzmannschule in Berlin- Mitte erweitert und wird
intensiv genutzt.
Die berufliche Bildung
im theoretischen Bereich ist an der Ernst-Adolf-Eschke-Schule angesiedelt.
Die Zahl der Berufsschüler ist erheblich angestiegen, so dass sie
jetzt etwa 50 bis 60 Auszubildende beträgt. Der Unterricht findet
überwiegend in Kooperation mit 12 Oberstufenzentren der verschiedenen
Berufsfelder statt. Unsere Lehrerinnen und Lehrer begleiten die
Auszubildenden in die Berufschule für Hörende und arbeiten in zusätzlichen
Stunden auch in unserem Schulgebäude. Aufgrund des hohen Engagement
der Kolleginnen schafften bisher fast 100 Prozent der Azubis einen
Berufsabschluss.
In jüngster Zeit haben zwei Zahntechniker, zwei
Friseurinnen, Technische Zeichnerinnen, Metallbauer sowie Tischler
die Prüfungen bestanden.
Nicht zuletzt möchte ich bei den aufgezählten tiefgreifenden Veränderungen
der pädagogischen Landschaft unserer Schule erwähnen, dass wir seit
zwei Jahren-wahrscheinlich seit Karl Heinrich Wilke wieder zum ersten
Mal,einen gehörlosen Gehörlosenlehrer
haben, der Ihnen allen bekannt ist, Olaf
Tischmann. Auch dies ist ein Zeichen für die gewachsene Bereitschaft
der Gehörlosenpädagogik in Berlin, sich wieder für die Mitarbeit
Gehörloser in der Schule zu öffnen und ich bin froh, diese Entwicklung
unterstützen zu können.
Wenn wir den Blick in die Zukunft richten, so
hoffen wir, dass unsere Absicht , einen bilingualen Schulversuch
im Schuljahr 2001/2002 zu beginnen, Wirklichkeit wird.
Besucher unserer Schule sagen uns immer wieder,
dass die Atmosphäre im Unterricht entspannt und freundlich sei und
sind erstaunt, wie flüssig die Kommunikation zwischen Lehrern und
Schülern verläuft. Mein Ziel war stets, dass unsere Schüler beim
Verlassen der Schule große Selbständigkeit und ein starkes Selbstbewußtsein
mitnehmen, um ein später selbstbestimmte Leben führen zu können.
Ich glaube, dass sich auch in diesem Punkt ein Wandel ereignet hat.
Ich
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
Manfred Wloka
"Dieser
Artikel wurde uns freundlicherweise von Bernd
Rehling zur Verfügung gestellt."
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