History
Otto Friedrich Kruse


SEHEN STATT HÖREN, Bayerisches Fernsehen/German TV
Sendung: 20. 05. 2001
Beitrag: "Otto Friedrich Kruse"
Autor: Gerhard Schatzdorfer

Moderation Jürgen Stachlewitz:
Genau vor 200 Jahren wurde hier in Hamburg-Altona, das damals noch zum Königreich Dänemark gehörte, ein Mann geboren, der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte der deutschen Gehörlosen war: Otto Friedrich Kruse. Seine Namensgebärde ist so: Kruse. Diesen Mann, sein Leben und sein Werk, wollen wir Ihnen jetzt vorstellen. Wir haben dafür einen gehörlosen Fachmann gefunden:
Helmut Vogel

2.00 Porträt von Otto Friedrich Kruse,
Lehrer und Publizist, 1801 - 1880

2.08 Helmut Vogel:
Früher war hier noch freie Landschaft, und die Schlei war
ganz in der Nähe.

Jürgen Stachlewitz:
Und hier ist also der kleine Otto Friedrich Kruse zur Schule
gegangen?

HV:
Ja, genau hier. Nur, das Gebäude, das wir hier sehen, ist neu
erbaut worden, an der Stelle des alten Schulhauses.
Ein gewisser Georg Pfingsten hat zuerst die Taubstummen-
anstalt in Kiel gegründet, die dann 1810 hierher umgezogen ist.
Kruse hat diese Schule bis 1817 besucht. Er muss also auch
hier im Schulhof herumgelaufen sein.
Das frühere Gebäude war auch ziemlich groß, wurde aber
später abgerissen. Es gibt noch ein altes Bild davon,
im Städtischen Museum. Das könnten wir uns dort anschauen.

JS:
Ja, gut.

3.04 Kupferstich: Königliches Taubstummen-Institut Schleswig

3.10 JS im Städtischen Museum:
Was war das damals für ein Unterricht, den Kruse als Kind
hier bekommen hat? Und wie hat es ihm gefallen?

3.21 HV:
Er wurde ja hörend geboren, und als er mit 6 Jahren ertaubte,
wusste er nicht mehr, wie er kommunizieren sollte und war sehr
deprimiert. Seine Eltern hörten von der Kieler Gehörlosenschule,
und dort machte es ihm Freude, dass auch mit Gebärdensprache
unterrichtet wurde. Das gefiel ihm sehr gut und er lernte viel,
auch nach dem Umzug nach Schleswig.
3.39 Als Ertaubter war er auch im Lesen sehr schnell von Begriff und
konnte sich durch den Unterricht in Gebärdensprache und
Lautsprache sehr gut entwickeln. Das wurde damals die
"kombinierte Methode" genannt.
Und er hatte einen Lehrer, der ihn sehr stark förderte.
Sein Name war Hans Hensen. Als junger Lehrer wie auch später
als Vorsteher stand er immer in enger Beziehung zu Kruse.

4.06 Porträt Hans Hensen (1786 - 1846)

4.13 JS:
Kruse war ab 1817 Hilfslehrer in Schleswig, dann zwischen-
durch 9 Jahre lang Privatlehrer in Altona und in Bremen,
bis er 1834 wieder nach Schleswig zurückkehrte. Kannst
du uns kurz seinen beruflichen Werdegang beschreiben?

4.32 HV:
Also, erst einmal war er sehr froh, dass er 1817 hier als Hilfslehrer eingestellt wurde. Er wollte dann auch das Seminar für Schullehrer besuchen, aber wegen seiner Taubheit durfte er daran nicht teilnehmen. So musste er sich er sich 6 Jahre lang im Selbststudium den ganzen Stoff, die Theorie und Praxis der Pädagogik, aneignen,
den man normalerweise in 3 Jahren Seminar lernte.

4.59 Als Hilfslehrer arbeitete er mit den Kindern den Lehrstoff in Gebärden-sprache durch. Man setzte die gehörlosen Lehrer damals als "lebende Wörterbucher" ein, um den Schülern durch Gebärdensprache das Verständnis der schriftlichen Texte zu erleichtern.
Ab 1825 sammelte er dann andere wertvolle Erfahrungen. Nach seiner Rückkehr nach Schleswig 1834 bekam er endlich mehr Verantwortung und konnte als Klassenlehrer und in einer ganzen Reihe von Fächern auch als Fachlehrer an der Schule unterrichten.

5.30 Bild: Taubstummen-Institut Schleswig um 1860

5.35 HV:
Insgesamt war er 55 Jahre als Lehrer tätig! Erst 1872
ging er in Pension. Er erhielt auch vier hohe Orden für seine
Verdienste. Ich glaube, einen so bedeutenden Gehörlosen
wie ihn hat es in Deutschland nicht gegeben.
Ihm wurde sogar vom Gallaudet-College in Washington
1873 die Ehrendoktor-Würde verliehen!
1880 starb er.

6.05 Kruse mit Orden

6.15 Landesarchiv Schleswig-Holstein

6.22 JS im Landesarchiv:
Hier sieht man, dass Otto Friedrich Kruse auch sehr viel geschrieben
und veröffentlicht hat. Mehrere Bücher sind darunter.
Und du, Helmut, hast auch deine Magisterarbeit über Kruse
geschrieben. Welche seiner Publikationen sind besonders wichtig?

6.40 HV:
Ja, sein Werk ist wirklich umfangreich. Er hat mehr als zehn Bücher
geschrieben, hauptsächlich für die hörenden Lehrer an den
Gehörlosenschulen. Wenn ich die wichtigsten davon herausgreifen
soll, würde ich vier nennen.

6.54 Das erste ist aus dem Jahr 1832 und heißt "Der Taubstumme im
uncultivierten Zustande..." Da beschreibt Kruse das Leben von Taubstummen, über 25 Personen, aus Frankreich, Deutschland
und anderen Ländern. Dass es so eine Sammlung von
Lebensbildern damals schon gab, ist sehr beachtlich.

7.18 Das zweite Buch ist von 1853. Da hatte Kruse eine Europareise
gemacht, auf der er 27 Gehörlosenschulen in verschiedenen
Ländern besuchte, und seine Erfahrungen dann aufgeschrieben.
Dieses Buch mit dem Titel "Über Taubstumme, Taubstummen-Bildung
und Taubstummen-Institute" fand besonders große Verbreitung.
Es hatte ungefähr 500 Seiten und war sicher das bekannteste
Buch von Kruse.

7.46 Buchtitel

7.57 HV weiter:
Und ein drittes Buch finde ich besonders interessant, auch wenn
es nicht so viele geschichtliche Fakten enthält. Es ist von 1869
und heißt: "Zur Vermittelung der Extreme in der deutschen und
französischen Unterrichtsmethode". Darin hat er entschieden
gegen die Entwicklung in Deutschland zur oralen, genauer gesagt
zur rein oralistischen Methode protestiert, deren Grundidee es war,
die Gebärdensprache völlig aus dem Unterricht auszuschließen

8.28 Er sah diese Entwicklung schon früh und hat mit Nachdruck
davor gewarnt, unter anderem mit dieser Broschüre von etwa
50 Seiten, in der er genau begründet, warum man die Gebärdensprache nicht weglassen darf.
Sie wurde später auch ins Französische und Englische übersetzt.

8.46 Buchtitel "Vermittelung..." und "Bilder aus dem Leben
eines Taubstummen" (Autobiographie)

9.00 Gedenkfeier im Gehörlosenzentrum Kiel

9.19 Vortrag Helmut Vogel

10.29 Jürgen Stachlewitz:
Auf dieser Veranstaltung zum Gedenken an Kruse trafen wir
zu unserer Überraschung auch diesen Herrn aus Norwegen
und würden ihn gern nach seinem Eindruck fragen.

10.40 Odd Schröder
Ich habe mich sehr über die Einladung zu dieser Kruse-Feier gefreut. Ich arbeite ja an der Universität Oslo, und da bin ich gleich in unsere Bibliothek gegangen und habe mir dieses Buch von Kruse geholt. Auf dem Flug hierher habe ich es gelesen. Es sind die "Bilder aus dem Leben eines Taubstummen". Und was ich da und auch durch dem Vortrag von Helmut Vogel über ihn erfahren habe, hat mich mit großer Hochachtung erfüllt. Er schreibt als Taubstummenlehrer, aber es geht ihm nicht nur um das Sprechenlernen, das Artikulationstraining oder andere Einzelmethoden, sondern um den ganzen Menschen.
Ich muss wirklich sagen: Kruse war ein großer Humanist!

11.35 JS:
Der Name dieses Herrn ist Odd Schröder. Das klingt auch
ziemlich deutsch. Seine Namensgebärde ist so.
Er wurde erst vor kurzem zum Präsidenten der internationalen
"Deaf History"-Organisation gewählt. Was gibt's denn in der
Deaf History im Moment Neues?

11.54 Odd Schröder:
Die "Deaf History International" wurde seinerzeit in den USA
beim "Deaf Way", diesem großen Kulturfestival der Gehörlosen,
aus der Taufe gehoben. Seither hat es schon eine Menge Forschungen gegeben, aber es ist nicht so, dass jeder für sich forschen muss, sondern wir stehen weltweit untereinander in Verbindung.
Es geht um die Kultur, die Schulen, die Gebärdensprache,
und dadurch bekommen wir mehr "Deaf Pride", also das Gefühl,
dass wir uns nicht verstecken müssen, sondern ganz viele
Stärken haben.

12.29 Publikum, Vortrag Gerlinde Gerkens
Die Zusammenarbeit mit der "Deaf History" ist für mich unheimlich wichtig. Viele wissen einfach gar nichts über die deutsche Geschichte. Woher soll man auch die Informationen kriegen? Und ich denke, wenn Gehörlose jetzt selbst das erforschen und ihre Ergebnisse vorlegen,
dann haben wir endlich Material, so wie es Helmut Vogel über Otto Friedrich Kruse vorgelegt hat. Früher war da nichts. Jetzt haben sich Gehörlose in die Arbeit gestürzt und nachgeforscht über ihre eigene Geschichte. Darüber freue ich mich sehr.

13.00 Schlussbild/Schlusstitel

Kamera: Holger Heesch
Detlev Niebuhr
Schnitt: Rosemarie Hörl
Bericht: Gerhard Schatzdorfer

Wir danken dem Landesarchiv Schleswig-Holstein
und dem Städtischen Museum Schleswig

13.16 Bildende