Richard Liebermann
SEHEN
STATT HÖREN
2444 / 439 702
1068. Sendung vom 9. 12. 2001
1. Moderation Jürgen Stachlewitz:
Hallo, willkommen bei Sehen statt Hören! Heute haben wir drei
Kultur- beiträge für Sie. In Neu-Ulm wurde vor kurzem
eine Ausstellung über Leben und Werk des gehörlosen Malers
Richard Liebermann eröffnet. Die politischen Ereignisse und
die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit haben seinen
Lebensweg bestimmt. Folgen Sie uns auf die Spurensuche nach diesem
Künstler, der bis vor einigen Jahren noch fast völlig
vergessen war.
2.00 Anfangsbilder mit Filmtitel:
Richard Liebermann, 1900 - 1966, Lebenslinien eines gehörlosen,
jüdischen Künstlers.
2:52 Jürgen Stachlewitz:
Vor über 100 Jahren kam der Maler Richard Liebermann hier in
Neu-Ulm zur Welt. Sein Leben ist bestimmt von zwei Faktoren: er
ist Jude und er ist gehör-los. Diese Ausstellung zeigt das
Leben von Richard Liebermann. Zufällig be-findet sich gleich
gegenüber das Haus, in dem Richard Liebermann geboren wurde.
Sein Vater war Hopfenhändler und die Familie war nicht vermögend,
da die Mutter oft krank war und die Behandlung viel Geld kostete.
Richard Liebermann hat noch drei Geschwister. Die jüngste Schwester
Gertrud hat ihn sein Leben lang begleitet.
3.44 Text zu Bildern:
Die Friedrichstraße in Neu-Ulm.
4.02 München vor dem 1. Weltkrieg.
4:17 J. Stachlewitz:
Richard Liebermann ist von Geburt an gehörlos. Er besucht die
"Königliche Taubstummenanstalt" in München.
Das hier ist Professor Wanner. Er war Lehrer und Arzt und ist Richard
Liebermann sehr ans Herz gewachsen. So malt er das Porträt
von ihm. Später dann besucht Richard Liebermann die Akademie
der Bildenden Künste in München. Sie können sich
vorstellen, dass das Studium für einen Gehörlosen zur
damaligen Zeit nicht selbstverständlich war. Denn damals wurde
offen darüber diskutiert, Behinderte zu sterilisieren.
4.55 Text zu Bildern:
Porträts von Richard Liebermann aus seiner Studienzeit. Die
Münchner Malerfürsten sind sehr konservativ. Die Ausbildung
an der Akademie folgt den strengen künstlerischen Regeln des
ausgehenden 19. Jahrhunderts.
5:24 J. Stachlewitz:
Der gehörlose Student findet immer mehr Anerkennung. Während
seines Studiums interessiert sich Richard Liebermann besonders für
Landschaftsmalerei und Porträts. 1931 porträtiert er Albert
Einstein. Der weltbekannte Physiker sagt, das Porträt sei das
beste, das jemals von ihm geschaffen wurde. Das hier ist Max Liebermann,
der aber nicht mit Richard Liebermann verwandt war. Auch er ist
von dem Porträt begeistert. Und so kam es zum Durchbruch des
gehörlosen Künstlers. Seine Bilder werden in mehrere Ausstellungen
aufgenommen.
6:28 Adolf Hitler wird
Ende 1933 Reichskanzler. Obwohl Richard Liebermann mit 23 Jahren
Katholik wurde, bleibt er für die Nationalsozialisten "Volljude".
Das bedeutet unter anderem Berufsverbot und folglich Arbeitslosigkeit
für ihn. Eine Ulmer Bürgerin meint es gut mit ihm und
möchte ihm helfen, indem sie sich von ihm malen lässt.
Während des Malens bricht Richard Liebermann vor Hunger zusammen.
7.15 Text zu Bildern:
Schon am 1. April 1933 organisiert das NS-Regime den Boykott jüdischer
Geschäfte.
7:32 J. Stachlewitz:
Die Familie Liebermann zieht dann nach Konstanz am Bodensee. Wahr-scheinlich
auch, um bei weiterer Verfolgung schnell zu den Verwandten in die
Schweiz zu fliehen. Während Richard Liebermann an seiner Staffelei
sitzt und malt, spricht ihn ein Spaziergänger an, der selbst
auch Jude ist. Er macht Richard Liebermann das Angebot, in einem
Landschulheim in der Nähe von Ulm, dass er selbst leitet, zu
arbeiten. So erteilt Richard Liebermann von 1936 - 1939 hörenden
Kinder Malunterricht.
8.31 Text zu Bildern:
Richard Liebermann mit seiner Mutter und Schwester Gertrud
1935 in Konstanz... und als Zeichenlehrer in Herrlingen
8:50 J. Stachlewitz:
1940 haben die Deutschen in einem Blitzkrieg den Norden Frankreichs
be-setzt. Jüdische Bürger aus dem Elsass und Lothringen
werden in das Konzen-trationslager Gurs im Süden Frankreichs
deportiert. Darunter auch Richard Liebermann mit seinem Vater sowie
zwei Geschwistern. Seine Mutter und sein Bruder bleiben in Deutschland
und werden Opfer des Euthanasieprogramms. Das Leben im KZ Gurs ist
sehr hart. Bis zu 20.000 Menschen werden in den Holzbaracken zusammen
gepfercht. Demzufolge herrschen Krankheit und Hunger unter den Häftlingen.
Richard Liebermann kann sich kaum noch auf seinen Beinen halten.
Trotzdem nutzt er jeden Zettel, um Bilder und Skizzen anzufertigen.
10:31 In Gurs werden Deportationszüge
zur Vernichtung jüdischer Internierter zu-sammen gestellt.
Die Familie Liebermann entgeht diesem Schicksal nur knapp. Sie wird
in das Krankenlager Noé verlegt. Dort sind die Lebens-verhältnisse
etwas besser; dennoch stirbt der Vater. Obwohl nun auch Richard
Liebermann der völligen Entkräftung nahe steht, bemalt
er die Scheiben der Barackenfenster des Lagers. Das Personal und
die Offiziere sind davon positiv angetan und bringen die Liebermanns
in ein von Nonnen geführtes Heim. So rettet Richard Liebermann
sein Leben und das seiner Geschwister. Dort erleben sie das Ende
des Zweiten Weltkrieges.
11.29 Text zu Bildern
Jüdische Bürger in Frankreich auf dem Weg zum Transport
in die
Vernichtungslager
12:04 Richard Liebermann
bleibt für den Rest seines Lebens in St. Rambert in Frankreich.
Schwungvoll und schön malt er nun seine Stadtansichten und
Landschaften. Im Ort selbst unterstützt er die katholischen
Geistlichen. Geld hat er keines; und wenn er etwas braucht, kann
er mit seinen Bildern Lebens-mittel und Kleidung bezahlen. Deshalb
hängen heute noch in St. Rambert viele seiner Bilder. Am 10.
Dezember 1966 stirbt Richard Liebermann.
12.51 Bilder von R.L.,
darüber Schrifttitel:
Richard-Liebermann-
Ausstellung:
bis 3. Februar 2002
im Edwin-Scharff-Museum
Petrusplatz 4
Neu-Ulm
13.14 raus,
13.50 Jürgen Stachlewitz:
Hat Liebermann seine Gehörlosigkeit damals öffentlich
gezeigt? Und hatte er Kontakte zu Gehörlosen?
13.58 Gitta Fehringer:
Richard Liebermann war relativ unbekannt. Er erlebte als Jude die
Nazi-Zeit.
Er zog sich wohl eher zurück - schon auf Grund der Judenverfolgung.
Sein gehörloser Freund Rudolf Kreuzer war viel mit ihm zusammen,
denn zu den Gehörlosen konnte er ja nicht gehen. Kreuzer half
Liebermann auch durch die Zeit der Verfolgung als Jude. Und als
er 1928 zum katholischen Glauben konvertierte, war der gehörlose
Rudolf Kreuzer sein Taufpate. Der beteiligte Gehörlosenseelsorger
war Edelmar Ruß.
Für die Nazis änderte das aber nichts an seiner jüdischen
Abstammung und so wurde er trotzdem nach Frankreich deportiert,
wo er sprachlich bedingt völlig isoliert war. Liebermann hatte
eine Schwester, die die Familie versorgte, da die Mutter krank war.
Sie begleitete ihn als Leibdolmetscherin bis zu seinem Tod und war
immer in seiner Nähe. Ich denke, sie hatten so eine Art familiäre
Gebärdensprache. Andere Kontakte zu Liebermann sind keine bekannt.
Ich denke, dass er nach seiner Deportation nach Frankreich und vorher
in Deutschland keine Kontakte zu Gehörlosen hatte.
Er lebte an der Seite seiner Schwester und sonst sehr isoliert.
15.08 Porträt R. Liebermann, darüber
Schlusstitel:
Beitrag: Jutta Neupert
Moderation: Jürgen Stachlewitz
Dolmetscher: Holger Ruppert
Rita Wangemann
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