Karl Heinrich Wilke
SEHEN STATT HÖREN, Sendung 16. 07. 2000
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Beitrag: "Carl Wilke" Länge: 9 Min. 00
Gerhard Schatzdorfer
Moderation Jürgen Stachlewitz:
Die Fachleute für Deaf History haben sich in diesem Jahr hauptsächlich
mit der Person eines gehörlosen Lehrers und Künstlers
beschäftigt, der vor 200 Jahren geboren wurde und weit über
die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde. Im Ostfriesischen
Schulmuseum erinnert eine Ausstellung an ihn.
2.00 Alte Schule
2.07 Historischer
Unterricht (um 1900), Lehrer:
Die Hände sind gefaltet, der Rücken angelehnt, und die
Füße stehen parallel. So müsst ihr die ganze Stunde
über sitzen. Wehe, wer sich rührt!
Zur Schule früher gehörte auch der Stock. Der Lehrer hatte
den Stock in der Hand, schlug so auf die Bank, und dann mussten
die Kinder die Finger zeigen. Umdrehen! Was ist denn hier mit den
Fingernägeln? Nach vorn!
2.54 Moderation
J.Stachlewitz:
Dieses Schulmuseum, in dem wir gerade sind, liegt in Ostfriesland.
Hier sind auch Bilder zu sehen, wie sie früher in vielen Schulen
an den Wänden hingen. Alle Bilder dieser Ausstellung wurden
von einem gehörlosen Lehrer gemalt. Sein Name war:
Carl Heinrich Wilke. Das ist die Namensgebärde für Wilke.
3.23 Bild: Zimmer im Bauernhof
3.36 Frage J.Stachlewitz:
Helmut Vogel hat sich darauf spezialisiert, die Geschichte der Gehörlosen
zu erforschen. Und er hat sich auch schon ausführlich
mit dem Leben und Werk von Wilke beschäftigt. Kannst du uns
bitte diesen Mann kurz vorstellen?
3.55 Helmut Vogel:
Ja, gern. Wilke wurde im Jahr 1800 in einem Dorf bei Berlin
geboren, in Rhinow. Er ist im 2.Lebensjahr ertaubt. Mit 7 Jahren
kam er nach Berlin an die Gehörlosenschule, wo damals schon
auch Gebärdensprache verwendet wurde, von engagierten Lehrern.
Sogar den ersten gehörlosen Lehrer gab es da schon.
Wilke konnte rasch viel Wissen erwerben, und schon, als er
8 Jahre alt war, erkannten die Lehrer seine große Begabung.
Auf ihren Vorschlag hin kam er später an die Kunstakademie
in Berlin und studierte 5 Jahre lang Malerei und Zeichnen.
Als er fertig war, holte ihn die Schule wieder zurück, weil
sie ihn brauchte. Ab 1820 war er dort Lehrer, zuerst Hilfslehrer,
dann bald richtiger Lehrer. Bis 1874 hat er durchgehend,
insgesamt 54 Jahre, an der Berliner Taubstummenanstalt
unterrichtet, als Lehrer und Zeichenlehrer.
4.56 Foto von Wilke (1800 - 1876)
5.03 Helmut Vogel:
Beim Unterrichten merkte er, dass es kaum Material für die
Kinder gab. Es fehlte besonders an Zeichnungen, aus denen
die Kinder etwas lernen konnten. Da hat er es einfach selbst
versucht und als erstes ein Wörter-, nein, ein Bilder- und
Wörterbuch für taubstumme Kinder herausgegeben.
5.22 Bild: Tätigkeitswort "Zeichnen"
5.28 Bild: Tätigkeitswort "Reisen"
5.34 Helmut Vogel:
1839 erschienen dann seine "Bildertafeln für den Anschauungs-
unterricht", aus denen z.B. dieses Bild stammt. 16 waren es
insgesamt. Da hat er es wirklich geschafft, Szenen aus dem
Leben so zusammenzustellen, dass man sie sofort mit der eigenen
Anschauung verbinden und die Inhalte im Unterricht
leicht behandeln konnte - in Gebärdensprache wie auch in
Lautsprache, je nach dem. Diese Bilder fanden große Verbreitung,
hatten 11.000 Stück Auflage und blieben lange Zeit, bis 1860,
ohne Konkurrenz. Erst dann gab es andere, neue.
6.08 Bild: "Dorf"
6.16 Bild: "Feldernte"
6.24 Bild: "Scheune"
6.32 Frage J.Stachlewitz:
Hier im Ostfriesischen Schulmuseum treffe ich noch zwei
weitere Fachleute. Meine Frage an sie: Wilke hat seine Anschauungsbilder
ja für den Unterricht an der Berliner
Taubstummenschule gemacht. Wie kam es dann, dass auch
so viele Schulen für Hörende so großes Interesse
hatten,
diese Bilder zu kaufen, auch über die Grenzen hinaus,
bis nach Holland?
6.54 Jaap ter Linden,
Direktor Schulmuseum Rotterdam
In unserem Schulmuseum in Rotterdam zeigen wir die Wilke-Bilder
immer, weil sie die ersten Schulwandbilder waren, die ersten Schulwandbilder
überhaupt in den Niederlanden, weil sie interessant sind, weil
wir nicht wissen, ob sie auch noch in Gehörlosen-Einrichtungen
und -Schulen benützt worden sind. Das wissen wir nicht. Wir
wissen nur, dass sie auf Normal-Schulen benützt worden sind.
Also, wir haben noch sehr viel Untersuchungen zu machen über
die sehr interessante Figur von Wilke.
7.30 Bild: "Lehren" und "Lernen"
7.35 Bild: "Spielen"
7.40 Kurt Dröge,
Volkskundler
Carl Wilke ist in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung.
Einmal im Hinblick auf den Gehörlosen-Unterricht. Zum Zweiten,
wenn man so will, als Begründer des Schul-Wandbildes! Er steht
für den Übergang vom Handbild, was man noch in der Hand
tragen kann, zum Wandbild, was für die ganze Klasse sichtbar
war. Und zum Dritten, und das wird bisher häufig ünersehen,
ist Wilke für die allgemeine Entwicklung der Druckgraphik im
19. Jahrhundert meiner Meinung nach von ganz großer Bedeutung
gewesen.
8.12 Detail aus Bild: "Feldernte"
8.16 Kurt Dröge
weiter
Diese Entwicklung ist durch die Erfindung der Lithographie zu Beginn
des 19. Jahrhunderts stark beeinflusst worden. Es ist kein Zufall,
dass Carl Wilke auch in dieser Zeit seine Bilder hat komponieren
können.
Und die Art, wie er sie komponiert hat, hat sich ganz stark ausgewirkt
auf große Bereiche dieser, man sagt, "populären
Druckgraphik", die überhaupt nichts mehr mit der Schule
dann zu tun hatten, sondern in ganz andere Bereiche des täglichen
Lebens eingegangen sind. Also, einmal die Entwicklung des Schulbildes,
und dann die Entwicklung des allgemeinen
Bildes, gedruckten Bildes.
8.40 Bild: "Bauplatz"
8.54 Bild: "Markt"
9.07 Foto: Carl Wilke und Ludwig Reimer
(ca.1875)
9.19 Helmut Vogel:
Schön, dass hier Wilke und Reimer auf einem Bild
zusammen sind.
9.24 Jürgen
Stachlewitz:
Ja, sehr interessant. Kannst du uns noch sagen:
Was war das Bedeutende an Wilkes Person?
9.30 Helmut Vogel:
Da gibt es Vieles. Zunächst seine lange Tätigkeit als
Lehrer,
54 Jahre. Zum 50-jährigen Dienstjubiläum bekam er einen
Verdienstorden verliehen, vom Preussischen König, dem späteren
Deutschen Kaiser. Das war 1870 ganz sicher eine Seltenheit.
Und zweitens, dass er als Lehrer sehr großen Einfluss auf
die
gehörlosen Kinder hatte, die im Unterricht sicher sehr viel
von ihm gelernt haben. Einer seiner Schüler war Eduard Fürstenberg,
der
zu einer der bekanntesten Figuren der Gehörlosenbewegung wurde,
als Gründer des ersten Gehörlosenvereins in Berlin.
10.06 Zeitschrift "Der Taubstummenfreund"
mit Nachruf auf Wilke (1876)
10.16 Helmut Vogel:
Aus heutiger Sicht erscheinen uns 50 Jahre als eine lange
Zeit. Für uns sind außergewöhnliche Gehörlose
etwas ganz Neues.
Aber früher gab es das schon mal! Und wie damals mit
Gebärdensprache unterrichtet wurde, ist sicher auch für
uns
heute hochinteressant. Der 200. Geburtstag Wilkes ist ein
schöner Anlass, darauf hinzuweisen. Und dass das Museum den
Bezug dazu herstellt - wunderbar!
10.38 Bildausschnitt: "Bauernhof"
(mit Taubenschlag)
Bericht: Gerhard Schatzdorfer
Dolmetscherin: Herma Riemer
Kamera: Ralf Hildebrand
Ton: Olaf von Gowinski
Schnitt: Andreas Miekisch
11.00 Bildende
Moderation Jürgen
Stachlewitz:
Die Wilke-Ausstellung in Leer bei Ostfriesland ist noch bis Ende
August zu sehen.
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